Schmitts Lesehappen
Von W. Christian Schmitt.
In der „Aula der Erinnerungen“ lässt uns W. Christian Schmitt an seiner Lebensreise teilnehmen. Im eigentlichen Sinne des Wortes ist die Aula ein Versammlungssaal. Hier kommt man zusammen und hier werden wichtige Dinge verhandelt. Und Schmitt verhandelt hier nicht mehr und nicht weniger als sein Arbeitsleben auf höchst unterhaltsame Weise. Lesen Sie hier als Textauszug Portraits mit „Groß-Gerau“-Bezug.
Namen, die in Groß-Gerau noch jeder kennt
Herbert Friedmann (Jg. 1951) gehörte mit seinen fast 100 Buch-Publikationen zu den Fleißigsten der Literaturszene. Es gibt etliches, was uns verbindet. Einmal sein Geburtsort Dornheim, heute Stadtteil von Groß-Gerau, in dem auch ich viele Jahre meines Lebens verbracht habe. Zum anderen unser zwischenzeitlich gemeinsamer Wohnort Darmstadt, wo ich ihm hin und wieder begegnete. Dann Frankfurt, wo er kurzfristig die Literatur-Werkstatt leitete und auch mich zu einem Vortrag einlud. Und schließlich der Odenwald, wo er einige Zeit in Brensbach/Odw. für die Kleinkunstkneipe Alte Post zuständig war, in der u.a. auch Manfred Hausin und Ulrich Roski auftraten. Nicht zu vergessen die bislang letzte Station Berlin, in das ihn die Nähe zu seiner Tochter Amelie zog. Von 2008 bis 2010 hatte er zudem an der FH Frankfurt am Main einen Lehrauftrag für Kreatives Schreiben.
Peter Härtling (Jg. 1933) war gewissermaßen mein erster Auftrag, den ich für die Hörfunkabteilung des WDR erledigen durfte. Mit Aufnahmegerät reiste ich also nach Bergen-Enkheim, wo Härtling – in der Nachfolge von Wolfgang Koeppen, Karl Krolow und Peter Rühmkorf – das Amt eines „Stadtschreibers“ ausübte. In der Reihe „Proben und Stichproben“ wurde der Zwölf-Minuten-Beitrag am 2. Juni 1978 unter dem Titel „Geheimakte Norwegen“ gesendet. Überdies lieferte ich für die Lübecker Nachrichten einen Vorort-Bericht, in dem u.a. zu lesen war: Härtling, der im unweit gelegenen Walldorf (in Hessen) seine Hauptwohnung hat, ist mit Büchern wie „Hölderlin“, „Eine Frau“, „Oma“, „Zwettl“, „Niembsch“ – um nur einige zu nennen – einem breiten Publikum bekannt geworden (für diesen August ist sein neuer Roman „Hubert oder die Rückkehr nach Casablanca“ angezeigt). Am schwierigsten, so gesteht er, ist es für den Stadtschreiber mit der Zeit-Aufteilung. Wann und wie oft kann, soll, muss er in „Amt und Würden“ sein? Härtling hat sich für den blockweisen Aufenthalt in Bergen-Enkheim entschieden. Das heißt, er setzt kalendarische Schwerpunkte, an denen er aktiv Stadtschreiber ist. Meist sucht er dann („ich bin selbst schuld, aber im Hause habe ich nicht die Ruhe“) von sich aus den Kontakt zu den Einheimischen. Sei es im Tante-Emma-Laden, beim Bäcker, Metzger oder dort, wo er das mittägliche Stadtschreiber-Mahl einnimmt – in der Gaststätte „Zur alten Post“… Härtling hat erreicht, dass die Bürger dieses mittlerweile von Frankfurt eingemeindeten Ortes ihn als „ihren“ Stadtschreiber begreifen. Die Folge: Bergen-Enkheims Bürger verstehen Härtling als Anlaufstelle, rufen ihn an, fragen ihn um Rat (auch persönlichen), kommen ins Stadtschreiber-Haus, um Bücher signieren oder um Selbstverfaßtes begutachten zu lassen…
Nicefield, bestehend aus Andreas (Jg. 1961) und Susanna Schönfeld, ist ein deutsch-spanisches Schlager-Duo, das seit dem Jahr 2000 mehr als ein Dutzend Singles und zwei Alben veröffentlicht hat. In einer Reportage, die das WIR-Magazin am 25. Januar 2014 unter der Überschrift „Sie stehen für Lebensfreude pur“ veröffentlichte, schrieb ich u.a.: Wie war das doch gleich noch, als wir uns das erste Mal begegneten? Bei der Recherche zum 2007 erschienenen „Groß-Gerauer Kulturatlas“ wies Dr. Dittmar Werner, Mitinitiator des Kulturstammtischs, darauf hin, dass „ein Musiker, den ich kenne“, unbedingt Aufnahme finden solle in diesem vom Magistrat der Kreisstadt unterstützten Nachschlagewerk. Sein Name: Andreas Schönfeld, in Darmstadt geboren und in Groß-Gerau ansässig. Befragt, was ihm Kultur bedeute, antwortete Andreas damals etwas geheimnisvoll klingend: „Die menschlichen und sachlichen Werte aus vergangenen Zeiten pflegen sowie mit kreativ-modernen Impulsen die Zukunft gestalten – aber vor allem bewusst gegenwärtig“.
Von Politikern, Kulturmanagern und Glücksgefühlen
Stefan Sauer (Jg. 1966) vertrat seit 2017 als CDU-Abgeordneter im Deutschen Bundestag die Interessen des Kreises Groß-Gerau, wo er von 2007 bis 2017 als Bürgermeister der Kreisstadt wirkte. Ich hatte Gelegenheit, seinen politischen Werdegang vom Mitglied des Groß-Gerauer Stadtparlaments über seine Wahl zum Stadtoberhaupt bis hin zum MdB quasi hautnah mitzuerleben. Eine Vielzahl von Begegnungen fand ihren journalistischen Niederschlag in Gesprächen, Interviews. In einem am 22. Juli 2017 im WIR-Magazin veröffentlichten „Tischgespräch“ mit ihm war u.a. zu lesen: …Fernseherprobt ist er schon, wie in der Sendung „Hart, aber fair“ zu sehen war, wo er sich – ganz Politiker – kurz und knapp und fotogen überdies einem Millionenpublikum präsentierte. „Man muss die Gabe haben“, sagt er, „etwas so zu erklären, dass der Bürger es versteht“. Sauer ist gewohnt faktensicher, mag Diskussionen, die durchaus meinungsübergreifend „zu einem Ergebnis führen“, und legt Wert auf die Feststellung: „Wichtig ist, dass ich bei allen Entscheidungen ICH bleibe…“.
Jürgen Volkmann (Jg. 1958) ist seit 1989 Museumsleiter am Groß-Gerauer Stadtmuseum sowie u.a. engagiert beim lokalen Kulturstammtisch. In einem WIR-Tischgespräch, das ich anlässlich seines 60. Geburtstags führen konnte, gab er Einblicke in seine Arbeit. Die Reportage, die unter der Überschrift „Seit fast 30 Jahren managt er Kultur vor Ort“ begann wie folgt: Jürgen Volkmann hat zwei „Wohnzimmer“. Ein privates, in das er uns einlud, und ein berufliches, das Stadtmuseum, der wohl wichtigste kulturelle Mittelpunkt in der Kreisstadt. Gut, das Stadtmuseum kennen wir bereits aus vielen Vorort-Gesprächen, von Veranstaltungen, Vernissagen, Konzerten, Diskussionsrunden, Museumsfrühstücken, Neujahrsempfängen – und auch aus Zusammenkünften des Kulturstammtischs, der dort quasi Heimrecht genießt. Aber wie sieht es privat aus bei dem Kulturmanager Jürgen Volkmann, der gleichermaßen Kultur zu vermitteln wie zu bewahren versteht? Was erzählt er uns (was wir noch nicht wissen) über sich und seine Definition von Museumsarbeit? Wie schafft es ein aus dem Norden Deutschlands (aufgewachsen am Rande der Lüneburger Heide) Zugezogener, sich mit Groß-Geraus Geschichte so zu identifizieren, dass selbst Einheimische immer wieder ins Staunen geraten? Volkmann, ein Glücksfall für diese Stadt.
Werner Wabnitz (Jg. 1954) begegnete ich erstmals, als er noch Pressesprecher der Groß-Gerauer Kreissparkasse war. Später wurde er Mitarbeiter des WIR-Magazins und realisierte aufgrund seiner „fotografischen Leidenschaften“ zusammen mit mir das für unsere Leser neue journalistische Format „Tischgespräche“. Dabei besuchten wir – über sechs Jahre lang – 50mal bekannte Personen aus dem Gerauer Land, um bei Speis und Trank all das in Erfahrung zu bringen (und zudem auf Video festzuhalten), was Leser interessieren könnte und in dieser Form noch nirgendwo sonst zu lesen und zu sehen war. In einem Interview wurde er zu seinem Engagement befragt und antwortete unter der Überschrift „Journalistische Neugier ist das Salz in der Suppe“ am 14. November 2020 im WIR-Magazin u.a.: „Mir sind einige Tischgespräche in guter Erinnerung geblieben, bei denen die Gastgeber ihre Kochkünste live zeigten und sowohl das Gespräch wie auch die Filmaufnahmen zeitweise in der Küche stattfanden… Ganz anders verlief das geplante Tischgespräch in der Leeheimer BüchnerBühne, als sich beide Gesprächspartner von Beginn an so intensiv mit ihren Themen beschäftigten, dass am Ende ein gemeinsames Essen vergessen worden war…“.
Von Feingeistern, Vorsitzenden und Berufenen
Anette Welp (Jg. 1963) habe ich als Autorin, Verlegerin und Frauenbeauftrage in einer südhessischen Gemeindeverwaltung sowie als engagierte Kultur-Aktivistin in bester Erinnerung. In einem Beitrag für das Monats-Magazin „WIR im Gerauer Land“ war am 17. Oktober 2015 u.a. zu lesen: „Ich wünsche mir“, sagt sie gegen Ende unseres Tischgesprächs, „dass mich einer entdeckt. Ich möchte gerne weiterkommen“. Und sie meint das durchaus ernst, grenzüberschreitend und im Blick auf ihre schriftstellerischen Aktivitäten. Da zählt weniger, dass das WIR-Magazin sie in der Tat bereits im Januar 2007 „entdeckte“ und als Kolumnistin gewinnen konnte, wo sie unter dem Titel „Aus Frauensicht“ 24 Beiträge unseren Lesern angeboten hat. Die Rede ist von Anette Welp, dem Multitalent aus Trebur. jener sprachbegabten wie wortgewandten Frauen-Aktivistin, alleinerziehenden Mutter zweier Kinder, Verlegerin, Autorin von bislang fünf Büchern, einem Hörbuch, zwei immerwährenden Freundinnen-Kalendern und einem Kunstbuch zu einer Wanderausstellung, Vorleserin, Mitglied im Groß-Gerauer Kulturstammtisch, Leiterin einer literarischen Werkstatt etc…
Dittmar Werner (Jg. 1949) war ein ernster Mensch, der herzlich lachen konnte. Hoch gebildet, bei seinen Schülern beliebt, im kulturellen Leben der Kreisstadt geschätzt und engagiert – der Pädagoge, Lyriker, Feingeist, Kulturkämpfer. Nach einem überstandenen Schlaganfall versuchte er an vergangene Zeiten anzuknüpfen. Reihum versuchten wir, ihn dabei zu unterstützen, Doch in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 2010 ist die Welt über ihm zusammengebrochen. Der Kulturstammtisch verlor seinen Mitgründer, der Groß-Gerauer Kulturatlas einen beflissenen Mitherausgeber, das WIR-Magazin einen kritischen Beobachter und Mitarbeiter, viele einen guten Freund.
Hans J. Wieschollek (Jg. 1945) zählte u.a. als Vorsitzender des Fördervereins Stadtmuseum mit zu den bekanntesten Persönlichkeiten der hessischen Kreisstadt Groß-Gerau. Bei einem am 10. September 2016 im WIR-Magazin veröffentlichten „Tischgespräch“ konnte man unter der Überschrift „Fast hätte er die Beatles geholt“ über ihn u.a. folgendes erfahren: Auf der letzten mir vorliegenden Visitenkarte von ihm steht zu lesen: „Hans J. Wieschollek, Sparkassenbetriebswirt, Leitender Abteilungsdirektor, Vertriebssteuerung/Marketing“. Ob das in dieser Form noch zutrifft? Wir haben Deutschlands wohl dienstältesten Sparkassen-Mitarbeiter, der mittlerweile nur noch stundenweise an seinem langjährigen Arbeitsplatz zu erreichen ist, in seinem Heim in Braunshardt besucht und nach Antworten gefragt… Wie alt muss dieser jung gebliebene Mann eigentlich sein, dem ich 1980 ein erstes Mal fast begegnet wäre. Damals war ich von Dortmund zurück nach Groß-Gerau gekommen und hatte in der Darmstädter Straße, zwei Häuser neben der Kreissparkasse, mit meiner Redaktionsstube eine Wohnung bezogen. In einer Anzeige las ich, dass die Sparkasse einen stellvertretenden Pressechef suchte. Und da ein solcher, nur einen Katzensprung entfernte Arbeitsplatz verlockend schien, folgte mein Bewerbungsschrieben. Das allerdings nicht zum Erfolg führte. „Neben Dir bewarben sich damals fast 40 Journalisten aus ganz Hessen“, sagt Hans, „aber letztlich hat keiner den Zuschlag erhalten, weil es eine interne Lösung gab“. Gottlob, denke ich im Nachhinein, denn kurze Zeit später wurde ich damals in die Frankfurter Chefredaktion des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel berufen. Doch wechselseitig verfolgten Hans und ich unsere jeweilige berufliche Entwicklung. Zuletzt ließ er mir im Januar 2021 etwas zukommen, was er -im Hinblick auf meine Autobiografie – auf Facebook gepostet hatte: „Respekt, mein lieber Christian. Ich habe alle (!) Deine Veröffentlichungen angesehen, nein eher verarbeitet. Und das Ergebnis war großer Respekt! Was Du mit Deinem „unkäuflichen“ WIR-Magazin auf die Beine gestellt hast, ist mehr als eine Lebensleistung. Du hast sehr viele Menschen auf Deiner „Reise“ mitgenommen. Du hast gegründet und mitgegründet, Du hast dokumentiert – aber niemals nur verwaltet. Ich bin nicht begeistert – ich bin vielmehr beeindruckt. Das geht viel tiefer und wirkt auch viel länger als „nur“ begeistert zu sein. Alles Gute weiterhin, Hans“.
Gerd Winter (Jg. 1951) in der hessischen Kreisstadt Groß-Gerau geboren, der Malerei an der Frankfurter Hochschule für bildende Kunst studiert hatte und seit 1984 als freier Maler in Roßdorf bei Darmstadt lebt, begegnete ich erstmals anlässlich einer Ausstellung. Winter, mehrfach mit Auszeichnungen bedacht (u.a. mit dem Wilhelm-Loth-Preis der Stadt Darmstadt), stellte ich am 20.2.2016 im Rahmen der Serie „WIR unterwegs“ den Lesern des WIR-Magazins vor. In dem „Ich hoffe, das mit dem Lebenswerk kommt noch“ überschriebenen Beitrag antwortete Winter auf die Frage, ob er seine künstlerische Tätigkeit als Beruf oder gar als Berufung verstehe u.a.: „Berufung ist natürlich ein großes Wort. Künstler aus Berufung arbeiten an einer Botschaft. Bewusst oder unbewusst. Andere entscheiden, ob die Botschaft ankommt…“.