Und wo mein Haus

Von Siggi Liersch.

Hand aufs Herz: Kennen Sie Peter Kurzeck und haben Sie schon mal was von ihm gelesen? Knapp siebzigjährig ist er bereits 2013 gestorben und hat sowohl vollendete als auch fragmentarische Werke hinterlassen. Weshalb man ihn lesen sollte, ist seine verblüffende Aktualität. Kriegssituationen, Vertreibung und Flucht, eine Entwicklung, die seit einem Jahr zum allgemeinen Menschheitsschrecken wieder in Europa beheimatet ist.

Kurzeck ist ein Chronist, der 1943 im böhmischen Tachau, dem heutigen Tachov, geboren wurde. Mit seiner älteren Schwester und der Mutter wurde er als Kleinkind vertrieben. Sein Vater kam erst Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Die Familie wohnte da bereits in der Nähe von Gießen. Gießen ist der Hauptschauplatz des neuesten Romanfragments „Und wo mein Haus?“, dessen hauptsächliches Geschehen in den späten Vierziger- und den Fünfzigerjahren spielt. Der Text ist der achte Band des Zyklus „Das alte Jahrhundert“, den Kurzeck selbst auf zwölf Bände angelegt hatte. „Vorabend“ war als Band 5 noch zu Lebzeiten des Autors 2011 erschienen. Rudi Deuble hat als Lektor und Freund, nach „Bis er kommt“ (noch mit Alexander Losse, 2015) und „Der vorige Sommer und der Sommer davor“ (ebenfalls mit Alexander Losse, 2019) „Und wo mein Haus?“ (2022) herausgegeben. Und auch dieser Band ist durch seine monologische Erinnerung geprägt. Er spielt im Jahr 1982 und der Autor erinnert sich in seiner farbig fließenden Prosa an seine Flucht aus Böhmen und seine spätere Arbeit bei den amerikanischen Streitkräften als Zivilangestellter in der Personalabteilung (1961–1971), wo er sich um sogenannte Displaced Persons kümmerte, auch dies in der Verbindung zu heute ein äußerst aktueller Bezug. Seiner Maxime, dass nichts vergessen werden darf, folgt Kurzeck auch im Buch. Er erinnert sich daran, dass die vertriebene Familie immer nur geduldet wird, dass sie auf das Wohlwollen der Vermieter angewiesen ist. Er ist das fünfjährige Flüchtlingskind mit den böhmischen Liedern im Ohr, er gehört nicht wirklich hier her, kommt vom Dorf in die Trümmerlandschaften, die auf das zerstörte Gießen der Nachkriegszeit verweisen, läuft zum Schwarzmarkt und ist verängstigt und aufgeregt zugleich.

Wenn Sie Literatur mit spannungsreicher Handlung gleichsetzen, dann werden Sie Kurzecks präzisen und bedrückenden Beschreibungen nichts abgewinnen. Wenn Sie aber auf poetische und dadurch auch faktische Genauigkeit aus sind, werden Sie die Qualitäten seiner Erinnerungsarbeit, die sich in genauen Reflexionen und Beobachtungen zeigt, zu schätzen wissen.   

Kurzecks Chronik des alten Jahrhunderts begann 1997 mit dem Roman „Übers Eis“. Es folgten „Als Gast“ (2003), „Ein Kirschkern im März“ (2004) und „Oktober und wer wir selbst sind“ (2007). Keine Einzelheit darf je vergessen werden. Das war und bleibt die Maxime von Kurzecks Literaturauffassung. Zwischen der Veröffentlichung der Teile sechs und sieben lagen das Ende des Stroemfeld-Verlags und der daraus resultierende Wechsel von Kurzecks Gesamtwerk zu Schöffling Co. Für Peter Kurzeck war die intensive Beschäftigung mit dem Vergangenen das Monument für die Erinnerung. In einer Rede auf den tschechischen Schriftsteller Ludvik Vaculik sagte Kurzeck: „Ich glaube nicht an die Vergänglichkeit, ich halte sie für einen Irrtum, genau wie das Sterben. Eines Tages werden wir darauf kommen, dass wir da etwas falsch verstanden und uns die Vergänglichkeit und den Tod immer nur eingebildet haben. Jeder Leser soll sich selbst die Mühe machen und ein eigenes Bild. So geht Lesen. So geht das Leben überhaupt.“

Peter Kurzeck, Und wo mein Haus?
Schöffling & Co., 2022, 174 S., 24

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