Jeder gibt etwas in die Gruppe
Von Rainer Beutel.
Den ersten Schritt, von einer Sucht loszukommen, müssen Betroffene selbst gehen. Spätestens dann kann der Kreuzbund Hilfe zur Selbsthilfe leisten, Halt und Kraft bieten. WIR-Redakteur Rainer Beutel hat sich bei Edo Klün, dem Vorsitzenden der Helfergemeinschaft für Suchtkranke und Angehörige im Kreis Groß-Gerau, erkundigt, wie die Organisation arbeitet und auf was es bei ihrer Unterstützungsleistung ankommt.
Herr Klün, um die Hilfe (zur Selbsthilfe) des Kreuzbunds zu beanspruchen, müssen Betroffene auch ihre Schwellenangst überwinden und sich fremden Menschen anvertrauen. Wie niederschwellig ist die Hilfe des Kreuzbunds?
Edo Klün: Den ersten Schritt muss der Betroffene machen. Abstinenz beginnt immer mit dem ersten Schritt. Unsere Schwelle ist niedrig, wir sind fast immer erreichbar und auch für ein persönliches Gespräch bereit. Wir haben keine Berührungsängste, machen keine Unterschiede in der Person, sind offen für alle Menschen und ihre Süchte. Sie müssen nur wollen.
Sind Erfolge messbar bzw. bekommen sie Rückmeldungen, auch von denen, die es nicht schaffen, von ihrer Sucht loszukommen?
Edo Klün: Jeder der Betroffenen, der es schafft, abstinent zu leben ist, ein Erfolg. Natürlich gibt es Menschen, die es nicht schaffen oder nicht mehr die Gruppe besuchen. Auch Rückfälle bzw. Vorfälle kommen vor, aber das ist kein Grund, aufzugeben. Manchmal braucht es eins bis zwei Anläufe, bis es klappt. Einige Betroffene sehen wir nach Jahren wieder in der Gruppe.
Über Süchte und ihre Gefahren sollten Menschen eigentlich aufgeklärt sein. Warum gelingt das nicht hinreichend und was kann der Kreuzbund dagegen ausrichten?
Edo Klün: Einige Suchtmittel gehören zum Alltag, zum gesellschaftlichen Leben dazu. Alkohol und Tabak können legal erworben werden. Es wird in der Werbung beworben und gilt als gesellschaftsfähig. Die Sucht wird häufig als Willensschwäche abgetan und nicht als Krankheit gesehen. Der Übergang von Gewohnheit, Missbrauch und Abhängigkeit ist schleichend und wird erst spät erkannt oder wahrgenommen. Suchtverhalten wirken sich auf alle Bereiche des Lebens aus. Der Kreuzbund versucht durch Aufklärung z.B. Verteilung von Flyer, Aktionen am Selbsthilfetagen, Besuch von Kliniken, sowie einer wöchentlich stattfindenden Infogruppe, Betroffene, Angehörige und andere Hilfesuchende zu beraten und aufzuklären. Am wichtigsten ist das persönliche Gespräch von „Aug‘ zu Aug‘“. Wir bieten Hilfe durch Selbsthilfe an. Das heißt, in unseren Gruppen sitzen Menschen, die selbst schon, eventuell durch verschiedene Süchte betroffen waren oder sind, ebenso auch Angehörige.
Wie darf man sich das konkret vorstellen?
Edo Klün: Wir können aus den eigenen Erfahrungen helfen, unsere Gruppenleiter und Leiterinnen haben eine spezielle Suchthelfer Ausbildung und leben bereits seit Jahren abstinent. Wichtig ist aber jeder, der die Gruppe besucht, denn jeder gibt etwas in die Gruppe, was anderen helfen könnte. Wir sprechen offen über unsere Sucht und ihre Auswirkungen. Es werden suchtmittelfreie Freizeitgestaltungen, etwa Wandern, Radfahren, Busausflüge und Essen gehen sowie Seminare angeboten. So werden neue Freundschaften gewonnen. Auch die Familien der Betroffenen sind bei uns herzlich eingeladen, und das Angebot wird gerne angenommen.
Alkohol, Medikamente, Drogen und längst auch Medien: Wann sind Menschen mediensüchtig bzw. wie wirkt sich das aus?
Edo Klün: Da nenne ich am besten eine Definition für Mediensucht: zeitlich, unkontrollierter, oft stundenlanger Medienkonsum, stetige zeitliche Steigerung der Nutzungszeit, übermäßige gedankliche Beschäftigung mit den Medienverhalten. Misslingende Versuche (Abstinenz), die Mediennutzung zu reduzieren. Intensiver Rückzug in die eigenen vier Wände, Vernachlässigung von sozialen Kontakten, also von Freundeskreis, Sport, Vereinen, Arbeit. Dazu kommen die Verschlechterung von Leistungen in Schule oder Arbeit, Konzentrationsschwäche, Unruhe, Müdigkeit und so weiter.
Der Kreuzbund differenziert zwischen „Zielgruppen“. Das hat sicherlich gute Gründe. Bitte erläutern Sie Unterschiede.
Edo Klün: Bei einigen Gruppierungen oder Stadtverbänden werden Zielgruppen eingerichtet. Da geht es um Drogen, Alkohol, Spielsucht, Esssucht oder auch PC- und Handysucht, und auch Führerscheinkandidaten (MPU). Wir in Groß-Gerau machen keinen Unterschied und bieten allen Suchtkranken Hilfe an.
Haben Sie Zahlen, wie viele Menschen im Kreis Groß-Gerau als „süchtig“ gelten und können Sie eine Altersstatistik anführen?
Edo Klün: Für den Kreis Groß-Gerau haben wir leider keine Statistik. Der Kreuzbund GG hilft und unterstützt pro Jahr etwa 20 Menschen mit Suchtproblemen. Drei Gruppen gibt es in Groß-Gerau. Die Gruppen 1 und 2 sind feste Gruppen in denen Menschen sitzen, die schon lange und stabil abstinent sind und das bleiben wollen. Gruppe 3 ist eine offene Info-Gruppe mit wechselnden Besuchern, die es schaffen wollen, aus der Sucht herauszukommen. Hier zeigen wir Wege auf wie es gehen kann. Insgesamt haben wir einen Mitgliederstand von 55 Weggefährten.
Was sind die häufigsten Ursachen für eine Sucht?
Edo Klün: In der Regel liegen die Ursachen der Sucht in der Kindheit und Jugendzeit. Hier wird z.B. festgelegt, wie groß das Selbstvertrauen eines heranwachsenden Menschen ist und wie er damit umgehen kann. Über den Missbrauch bei einer Lebenssituation, die er nicht bewältigen kann, lernt er das Suchtmittel kennen, benutzt es danach immer wieder und immer stärker, um den gleichen Effekt zu erzielen. Dadurch rutscht der Mensch immer tiefer in die Abhängigkeit.