Unnachgiebig – und nie ein Leisetreter

Von Siggi Liersch.
Kurz vor Erscheinen seines Gedichtbandes „Westwärts 1&2“ wurde der Dichter Rolf Dieter Brinkmann am 23.4.1975 nach einer Lesung von einem Auto in London erfasst und getötet. Er hatte den Linksverkehr nicht beachtet. So hieß es in lapidaren Rekonstruktionen und Zeugenaussagen, die sich auf den Unfallhergang bezogen.
Als ich vor ziemlich genau einem halben Jahrhundert Brinkmanns Gedichtband dann im Mai in Händen hielt, war die alternative Literaturwelt sich längst einig. Sie hatte mit dem Enfant terrible der Gegenwartsliteratur einen Großen ihres Genres verloren. Er wurde nur fünfunddreißig Jahre alt und hatte seit 1970 nichts Größeres mehr veröffentlicht. Zurückgezogen lebte Brinkmann mit seiner Frau und einem sprachbehinderten Sohn in einer kleinen Wohnung in Köln. Er wusste oft nicht, wovon er Miete und Telefon zahlen sollte. Zwei längere Auslandsaufenthalte prägten ihn in diesen fünf Jahren: 1972 war er für ein Jahr in der Villa Massimo in Rom (Stipendium) sowie 1974 Writer in Residence als Gastdozent in Austin (Texas). „Westwärts 1&2“ sollte sein Wiedereinstieg in die Literaturwelt werden. Das Original-Manuskript war textlich überbordernd und Brinkmann musste Zugeständnisse machen, dass es überhaupt veröffentlicht werden konnte. Erst in einer erweiterten Neuausgabe dreißig Jahre später (2005) wurde „Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975)“ mit über siebzig Seiten ebenfalls veröffentlicht. Und nun hat der Rowohlt Verlag eine dritte Ausgabe vorgelegt, in der zusätzlich 26 neue Gedichte enthalten sind, die sich im Nachlass fanden und ursprünglich für den Band vorgesehen waren. Zusätzlich gibt es ein Nachwort von Michael Töteberg.
Der Gedichtband ist also ein halbes Jahrhundert alt und der Leser wird sich fragen: Was sollen diese alten Gedichte? Weshalb gibt es überhaupt eine erweiterte Neuauflage? Nun, die Antwort ist verblüffend einfach: Brinkmann hat uns auch heute noch Entscheidendes zu sagen. Er war und ist der Dichter der offensichtlichen Zerstörung des Menschen in der modernen Welt sowie der katastrophalen menschengemachten Entwicklung seiner Umwelt. Mit seiner feinen Bewusstseins- und Formulierungsantenne hat er Gedichte geschrieben, die erschreckend zeitgemäß einen Istzustand darstellen, der bereits vor fünfzig Jahren prophetisch desillusionierend wirkte. Absolut ungewöhnlich sind schon die Fotografien auf den Einleitungsseiten. Sie zeigen das kahle Geäst von Bäumen. Jeweils sechs Schwarzweißbilder sind pro Seite nahtlos miteinander verbunden. Der wortlose Hinweis auf die Klimakatastrophe ist offensichtlich, da muss man nichts hineininterpretieren, was nur mühsam standhält. Auch die politischen aktuellen Schrecken drängen sich auf. Die Zeitverbundenheit macht diese Gedichte so zeitlos. Mit präzisen Beobachtungen schuf Brinkmann eine Fülle von Bildern, die trotz Einfachheit einer tiefen Sehnsucht nach einem besseren Leben Raum lassen. In „Trauer auf dem Wäschedraht im Januar“ heißt es „Ein Stück Draht, krumm/ ausgespannt, zwischen zwei/ kahlen Bäumen…// …eine frisch gewaschene/ schwarze Strumpfhose/ aus den verwickelten// langen Beinen tropft/ das Wasser in dem hellen,/ frühen Licht auf die Steine.“
Rolf Dieter Brinkmann, Westwärts 1&2,
Gedichte, erweiterte Neuausgabe,
Nachwort von Michael Töteberg, Rowohlt Verlag, Hamburg 2025,
423 Seiten, 52 Euro