Böll-Poeme vs. Draesner-Lyrik?

Von W. Christian Schmitt.

Begegnet bin ich ihm einmal. Das war wohl bei einem VS-Bundeskongress, der damals in Köln stattfand. Und einmal hat er mir sogar einen mit „Der Bahnhof von Zimpren“ überschriebenen Text überlassen, der in meiner 1984 bei Langen-Müller erschienenen Büchnerpreisträger-Anthologie „Deutsche Prosa“ abgedruckt wurde.

Die Rede ist von Heinrich Böll, dem Literatur-Nobelpreisträger und einstigen Mitglied des literarischen Dreigestirns Grass, Böll, Lenz. Seine Romantitel wie z.B. „Und sagte kein einziges Wort“, „Das Brot der frühen Jahre“, „Gruppenbild mit Dame“ oder „Ende einer Dienstfahrt“ waren fast so etwas wie geflügelte Worte. Die Buchinhalte jedoch wirkten zumindest bei mir damals alles andere als nachhaltig. Aus heutiger Sicht betrachtet waren sie einfach zu sehr dem Zeitgeist gewidmet. Ausgenommen natürlich sein „Irisches Tagebuch“, das mich bis heute begleitet.

Jetzt hat sein damaliger Verlag Kiepenheuer & Witsch, längst unter dem Dach der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, einen Gedichtband unter dem Titel „ein jahr hat keine Zeit“ veröffentlicht, mit dem nach vielen Jahren der Stille Bücherfreunde wieder einmal „neue“ Lesekost des 1985 verstorbenen Heinrich Böll vorgesetzt bekommen. Zuletzt fand man Böll-Gedichte in dem Bändchen „Gedichte. Collagen“ (zu dem Klaus Staeck die Illustrationen lieferte), das 1975 bei Labbé und Muta und dann 1981 als Taschenbuchausgabe beim dtv erschienen ist. Jetzt lesen wir Texte wie „Lied eines armen Soldaten“ (das er 1939 verfasste) oder „Der Leutnant“ (ein Jahr zuvor entstanden). Poeme, mit dessen Veröffentlichung jetzt die Herausgeber dem Ansehen des Literaturnobel-Preisträgers eher schaden. Für Böll-Fans ist dieses Buch sicher kein Lese-Muss.

Und wie sieht es bei Ulrike Draesner aus? Das rund 265 Seiten starke Buch beginnt mit einem Gedicht über den Gebrauch von „Kontaktlinsen“. Naja. Aber ist das die Lyrik, zu der ich je nach Gemütslage gerne greife? Vielleicht ist es der eher schnoddrige Ton, der bei jüngeren Lesern ankommen, aber an den ich mich nicht mehr gewöhnen mag. Auch wenn die (bereits) vielfach Geehrte (steht demnächst unvermeidlich die Verleihung des Büchnerpreises an?), Mitglied vieler Akademien (auch die für Sprache und Dichtung, in deren Zuständigkeit auch diese mit viel Preisgeld bedachte Ehrung zählt), Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig ist – ich mag (aber was bedeutet das schon?) der Jury-Entscheidung für den Ringelnatz-Preis nicht zustimmen, deren Urteil lautete: „Ulrike Draesner poetisiert die Welt“. Und was machen all die anderen Lyriker in diesem Lande? Warten sie darauf, dass sie eines Tages (auch) den „Deutschen Preis für Nature Writing“ erhalten, der 2020 – an wen wohl? – an Frau Draesner ging?

Ich habe zwar in meiner kleinen Lyrik-Bibliothek inzwischen rund 2.500 Gedichtbände, die mich einladen, für überschaubare Momente einzutauchen in die Gedanken- und Erfahrungswelt von Autoren ganz unterschiedlicher Herkunft – doch bei Draesners „hell&hörig“-Sammlung von Texten (oft auch in Englisch verfasst und in einem spielerisch anmutenden Layout angeboten) aus den Jahren 1995 bis 2020 bleibe ich oft eher etwas ratlos. Na gut, denke ich und lese wohl als Trost und Erklärung gedacht eine in SWR 2 gesendete Kritik, die da lautet: „Die Lyrik von Ulrike Draesner ist für das Hören gemacht – sie ist Sprachmusik…“. Dann habe ich mich wohl im Genre geirrt.

Heinrich Böll „ein jahr hat keine zeit. gedichte“ (Kiepenheuer & Witsch, 185 Seiten, 20,- Euro).

Ulrike Draesner „hell&hörig. Gedichte“ (Penguin Verlag, 265 Seiten, 24,- Euro).

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