Corona-Alltagsgeschichten
Von Ulf Krone.
In nunmehr über 50 Folgen präsentiert WIR-Kolumnistin Edelgard Rietz seit einigen Jahren unseren Lesern ihre „Alltagsgeschichten“, was Anekdotisches genauso einschließt wie „Aufreger“ aus Politik und Gesellschaft. Gemein ist ihren Beobachtungen die Unbestechlichkeit ihrer Urteile sowie ihr ganz eigener, charmanter Ton. Nach mehr als 50 Folgen der beliebten Reihe war es nun an der Zeit für einen Besuch – mitten in der Isolation, die Folge der Corona-Maßnahmen ist.
In unserer Reihe teilen Sie mit den WIR-Lesern Alltagsgeschichten, die zwischen Anekdote und Essay, zwischen Kommentar und Erfahrungsbericht changieren. Wie wählen Sie die Themen dafür aus und wie die passende Form?
Edelgard Rietz: Die Themen meiner Alltagsgeschichten suche ich nicht, sie finden mich. Ich bin gerne unter Menschen, suche Gespräche, registriere auch Verhaltensweisen. Die Form dafür wähle ich so, wie ich es auch einer Person erzählen würde. Außerdem lese ich viel quer durch die Angebote und finde dort Parallelen zu meinen Beobachtungen.
Ein wiederkehrendes Motiv in Ihren Beiträgen ist das Verzweifeln des gesunden Menschenverstands an einer bürokratischen, Konsum-orientierten und häufig heillos überkandidelten Lebenswirklichkeit. Woher kommt Ihr Drang, sich einzumischen und gegen Unvernunft und Ungerechtigkeiten die Stimme zu erheben?
Edelgard Rietz: Ich glaube, das hängt mit meinen Erfahrungen in der Nachkriegszeit zusammen. Wenn man am eigenen Leib schon als Kind schlimme Erfahrungen von Ungerechtigkeit, bitterster Armut und allem, was damit zusammenhängt, gemacht hat, lebt man nicht mehr ahnungslos dahin. Ich gehöre nicht zur Wegwerfgesellschaft, wie alle anderen auch, die Armut erlebt haben. Werte, gleich welcher Art, sind Arbeit, sie werden nicht verschenkt.
In Zeiten von Klimawandel-Leugnern, Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, Verschwörungstheorien sowie dem Erstarken von Rassismus und Nationalismus scheint es, als habe der gesunde Menschenverstand an Bedeutung verloren. Brauchen wir Ihrer Meinung nach einen Aufstand der Vernünftigen?
Edelgard Rietz: Ein Aufstand der Vernünftigen würde nicht viel bringen. Dummheit und Hass sind eine fatale Mischung. Ich habe gelernt, dass man die Klienten da abholen muss, wo sie sind. Draufhauen geht ja schlecht. Also müssen wir schlauer sein. Es müsste uns gelingen, ihre Ideologien zu unterwandern. Vorab wäre eine Analyse der Freizeitaktivitäten dieser Menschen wichtig. Über diese Schiene könnten wir sie vielleicht erreichen. Es gibt so wunderbare Stückeschreiber. An dem Film „Die Welle“ etwa erfährt man, wie Gehirnwäsche funktioniert. Alles eine Illusion?
Über das Schreiben der Alltagsgeschichten hinaus malen Sie und sind sehr aktiv in der Kulturszene der Kreisstadt, etwa als Teil des Kulturstammtischs, und in Frankfurt. In der Corona-Pandemie ist all das zum Erliegen gekommen. Wie erleben Sie diese Zeit, und wie gehen Sie mit den damit einhergehenden Einschränkungen um?
Edelgard Rietz: Die Corona-Zeit ist ganz schlimm für mich. Mein Mann ist viele Jahre tot, die Kinder aus dem Haus, ich bin also allein. Meine Aktivitäten sind ausgebremst. Kein Wandern, kein Kino, kein Theater oder Konzert, meine Jahresmuseumskarte ungenutzt, keine Uni, keine Besuche. Alles gegen mich. Dabei gehöre ich noch zu den Privilegierten, jeden Monat kommt die Rente, im Haus und Garten ist Luft. Ich bin also allein unterwegs, am liebsten mit meinem Rad kreuz und quer durch das Ried. Früher hatte ich ein Ziel, heute ist der Anfang wieder das Ende. Aber ich merke an mir, lange darf es nicht mehr dauern.
Sie haben die Entbehrungen der Nachkriegszeit als Kind selbst erlebt. Was hat Sie diese Erfahrung in Hinsicht auf die aktuelle Situation in der Welt gelehrt?
Edelgard Rietz: Das Trauma meiner Kindheit macht mich hellhörig, besonders für rechte Tendenzen. Ich weiß, dass Menschen in Angst manipulierbar sind, deshalb müssen wir vorher wachsam sein. Es gibt schon viel zu viele besessene Männer weltweit. Sind sie an der Macht, manipulieren sie die Menschen, unterdrücken sie, werfen Andersdenkende in die Gefängnisse. Die Rechtsradikalen wollen gar keine bessere Welt, sie wollen nur ihr eigenes Ego befriedigen. Nie wieder!
Zur Person: Edelgard Rietz wurde in Ostpreußen geboren; nach Flucht und Vertreibung in Niedersachsen eingeschult; Mittlere Reife in Uelzen; Ausbildung zur Kindergärtnerin und Hortnerin in Lüneburg; Heirat, zwei Söhne; seit 1972 in Groß-Gerau, ab 1977 im Dienst der Stadt als Erzieherin; In Rente: Hochschulzulassungsprüfung in Fulda, Studium der Sozialpädagogik mit Diplom an der EFH Darmstadt.