Das Flüstern wird lauter

Von Siggi Liersch.

Den Pferde-Flüsterer kennt fast jeder, der regelmäßig ins Kino geht. Es ist Robert Redford, der einen besonderen Draht zu den Tieren mit den großen Köpfen hat. Mit W. Christian Schmitt tritt eine andere Sorte Flüsterer hinzu. In seinem frisch erschienenen Buch „Unterwegs mit dem Lyrik-Flüsterer“ hat er einen neuen Tätigkeitszweig geschaffen und sich neben dem Genre des literarischen Journalisten als Lyrik-Flüsterer geoutet und spezialisiert.

Die Unterzeile lautet „Einladung zu einer literarischen Reise durch (m)eine Haus-Bibliothek“. Mit der Zeit wird deutlich, dass wir es hier tatsächlich mit einem Spezialisten zu tun haben, denn wer über eine Sammlung von mehr als 2.700 Lyrik-Bänden verfügt und auch noch kenntnisreich Auskunft über Lyrik geben kann, darf getrost als Spezialist bezeichnet werden.

Maria Gazzetti, die mehrere Jahre lang das Frankfurter Literaturhaus leitete, prägte die Fragen „Ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?“ Und in der Tat, Menschen, die Lyrik lesen, sind an wenigen Händen abzuzählen, jedenfalls wenn man den Auflagen beispielsweise der jüngeren deutschen Lyrik trauen darf. Das ist nahezu mundgeblasen oder handverarbeitet. Und hier setzt Schmitt ein. Er schöpft aus dem Vollen und wandert sprachlich durch die Jahrhunderte, die aufzeigen, welche Besonderheiten Zeitläufte hervorbringen. Sein Hauptaugenmerk gilt der Gegenwart und ihren Repräsentanten des lyrischen Ausdrucks. Natürlich hat Lyrik eine lange Tradition, denn der Mensch hat nicht mit dem Roman oder Drama begonnen, sich sprachlich auszudrücken. Es war die Kürze des lyrischen Sprechens, mit dem man vor hunderten, wenn nicht vor tausenden von Jahren begann. Dem modernen Menschen müsste diese Form des Sprechens sehr nahe liegen, denn er hat ja kaum Zeit, sich mit Geschriebenem zu beschäftigen. Wenn man es genau betrachtet, ist das Gedicht in seiner Form die Zeitgemäßeste aller schriftlichen Ausdrucksweisen. Schmitt ist da ganz rigoros und geht alphabetisch vor. B wie Benn oder Brecht oder E wie Enzensberger. Er bietet einen Überblick über Lyrikerinnen und Lyriker, der bei einem anderen Lyrik-Liebhaber durchaus anders aussehen könnte. Aber darauf kommt es gar nicht an. Er hat seine ganz eigene Sammlung, was nochmals unterstreicht, dass diese Form des menschlichen Ausdrucks als äußerst persönlich zu werten ist. Hier haben wir es mit besonderen Stimmen zu tun, die nicht austauschbar sind. Das sind in der Regel kürzere Texte, die von keinem anderen in dieser Form hätten geschrieben werden können. Auch deshalb ist Lyrik so wichtig, weil sie Individualität transportiert und vor Augen führt und keine Massenware und weil man hinter jedem gelungenen Vers das Menschsein spürt. Schmitt hat auch einige Prosa-Stimmen in seinem Bändchen aufgenommen. So schreibt sein langjähriger Freund Fritz Deppert: „Lyrik kann süchtig machen, sie euphorisiert den Schreibenden und den Lesenden und nimmt sie mit in andere und neue Welten. Sie lässt uns mit Worten jubeln, lässt uns mit ihnen trauern und beides in einer so gefühlsstarken Weise, wie dies andere Medien kaum vermögen.“ Auch Matthias Borgmann sei hier zitiert, denn seine Aussage wirft ein bezeichnendes Licht auf mögliche Abschreckungen, sich mit Lyrik zu beschäftigen: „In den Jahren der Schulzeit wurde einiges unternommen, die Beschäftigung mit Gedichten nicht zur Freude werden zu lassen.“ Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann geben Sie dem Gedicht eine neue Chance, sich auch bei Ihnen den Platz zu erobern, der ihm zusteht! Mit Schmitts Bändchen halten Sie einen kenntnisreichen Überblick in Händen, der Ihnen eine fundierte Ausgangsposition ermöglicht.

W. Christian Schmitt, Unterwegs mit dem Lyrik-Flüsterer
Einladung zu einer literarischen Reise durch (m)eine Haus-Bibliothek, Ulrich Diehl Verlag und Medienservice GmbH, 2023, 74 S., ISBN 978-3-9825762-2-0

Siggi Liersch
arbeitet als Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker in Mörfelden-Walldorf;
siegfried.liersch@gmx.de

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