Problemfall Verkehrswende

Von Ulf Krone.

Klima- und Umweltschutz sind zwei der großen Themen unserer Zeit, sie stehen inzwischen auf jeder politischen Agenda. Die Energie- und Verkehrswende sind dabei zentrale Punkte, doch die Energiewende wird von den Auswirkungen des Ukraine-Kriegs behindert und die Verkehrswende von ewig gestrigen Politikern. Wie es ist, sich in dieser Situation für das Radfahren und die Verbesserung der dafür nötigen Infrastruktur zu engagieren, davon berichtet der erste Sprecher des Ortsverbands Stadt Groß-Gerau des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) Norbert Sanden im Interview mit WIR-Redakteur Ulf Krone.

Im August 2018 wurde der Ortsverband Stadt Groß-Gerau des ADFC gegründet. Den Kreisverband, der aus dem bereits 1994 gegründeten Ortsverband Rüsselsheim hervorgegangen ist, gibt es seit 2012. Geben Sie unseren Lesern doch bitte zuerst einmal einen Überblick über die Ziele des Vereins – sowohl auf nationaler wie auch regionaler und lokaler Ebene!

Norbert Sanden: Seit 1979 setzt sich der ADFC bundesweit für eine wirkungsvolle Verbesserung der infrastrukturellen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für das Radfahren ein. Das Bundeskabinett nennt dieses Ziel in seinem 2021 beschlossenen Nationalen Radverkehrsplan (NRVP) „Fahrradland Deutschland 2030“.

Wir möchten, dass bis dahin 30 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, derzeit sind es zehn Prozent. Dies hieße, dass deutlich mehr Menschen als heute das Auto stehen lassen und stattdessen künftig das Rad nutzen. Und zwar nicht durch „Zwangsmaßnahmen“, sondern weil das Radfahren attraktiver und sicherer wird, kostengünstig ist es ohnehin. Dazu gehört auch der Ausbau eines leistungsfähigen und erschwinglichen öffentlichen Nahverkehrs. Wichtig ist, dass Verbesserungen für den Radverkehr nicht auf Kosten von Fußgänger/innen erfolgen. Unsere Zukunftsstrategie weist den Weg zum „Fahrradland Deutschland“.

Die regionale und lokale Ebene ist für die Entwicklung entscheidend, denn hier findet der Radverkehr statt, und hier werden politische Entscheidungen für konkrete Maßnahmen getroffen. Daher versuchen wir, den Landkreis und die Kommunen zu motivieren und sie dabei zu unterstützen, mehr für den nicht-motorisierten Verkehr zu tun. Um unsere politische Wirkung zu stärken, halten wir Kontakte zu Parteien, Verbänden und Medien. Der ADFC gehört auch zu den Initiatoren des Forums Verkehrswende Groß-Gerau.

Darüber hinaus sind wir in lokalen Strukturen wie dem AK Radverkehr der Kreisstadt aktiv. Einzelne Kommunen wie zum Beispiel Mörfelden-Walldorf oder Rüsselsheim sind inzwischen auf einem guten Weg, fahrradfreundlich zu werden. Andere, dazu gehört auch Groß-Gerau, befinden sich weiterhin noch am Beginn des Weges. Dies sind Kommunen, welche die Potentiale auch kleinerer Maßnahmen nicht ausschöpfen wollen.

Wie fällt Ihr Fazit nach den ersten vier Jahren des Ortsverbands Groß-Gerau aus?

Norbert Sanden: Ich sehe nicht, dass wir in den letzten viereinhalb Jahren größere konkrete, im Stadtgebiet sichtbare, Erfolge haben erzielen können. Wir machten uns zwar die Mühe, sämtliche radverkehrsbezogenen Mängel im gesamten Stadtgebiet zu identifizieren, sie kartographisch zu dokumentieren und das Ergebnis der Stadt zu übermitteln. Teilweise haben wir auch Lösungsvorschläge präsentiert. Aber davon wurde nicht viel aufgegriffen und noch weniger umgesetzt. Unfair wäre es allerdings zu behaupten, dass „nichts“ getan wurde. Es gibt Ausnahmen: Dazu zählen einige Markierungsmaßnahmen (z.B. in der Darmstädter und Gernsheimer Straße) oder auch die von uns vorgeschlagene Öffnung der Jahnstraße für den Radverkehr in Gegenrichtung. Über die Qualität der konkreten Umsetzung dieser Öffnung gibt es unter uns allerdings unterschiedliche Bewertungen. Einig sind wir uns darin, dass Optimierungsbedarf besteht.

Wie geht es weiter?

Norbert Sanden: Erfolgreich waren wir darin, die Anliegen einer sozial-ökologischen Verkehrswende in die politisch interessierte Öffentlichkeit zu tragen, mehr Menschen kennenzulernen und sie zu gewinnen, sich für den Radverkehr einzusetzen. Wir haben unser Netzwerk erweitert und unsere Medienpräsenz verstärkt. Wir pflegen Kontakte zu Bürgermeister Walther (CDU) und zu jenen Parteien, die mit uns sprechen wollen, namentlich zu den Freien Wählern, den Grünen, der SPD und der FDP. Wir sind parteilich nicht gebunden und unterstützen all jene Kräfte, die sich für den Rad- und Fußverkehr einsetzen – nicht nur in Wahlkampfreden, sondern durch konkrete Maßnahmen. Mir ist es wichtig zu betonen, dass ich selbst, trotz mancher Mängel, in Groß-Gerau und seiner Umgebung gerne Rad fahre. Dies könnten viele andere ebenfalls tun, wenn sie sich von alten Gewohnheiten lösten.

Vor zwei Jahren haben Sie gemeinsam mit anderen Engagierten im Rahmen des Forums Verkehrswende Groß-Gerau einen Radentscheid angestrebt (siehe WIR 303, 2021), um der Stadt und den umliegenden Gemeinden konkrete Ziele in Sachen Verkehrspolitik mitzugeben und ein Zeichen für die dringend notwendige Verkehrswende zu setzen, die letztlich ja auch ein Teil der Klimawende ist. Was ist daraus geworden?

Norbert Sanden: Wir haben mehr als die Hälfte der benötigten Unterschriften schnell gesammelt. Dann ist aber der Zuspruch abgeklungen. Wir mussten einen großen Aufwand betreiben, um weitere Unterschriften zu bekommen. Der Kreis der Aktivist/innen hat sich durch Wegzüge und Krankheit verkleinert, die Corona-Situation kam hinzu, so dass ich selbst immer weniger Lust hatte, weiterhin Unterschriften zu sammeln. Ich denke, dass es anderen ähnlich ging.

Wir haben aus anderen Städten erfahren, dass die Wirkung der Radentscheide beschränkt ist. Sämtliche Kommunen haben die Radentscheide aus kommunalrechtlichen Gründen abgelehnt, was gerade in Groß-Gerau ebenfalls zu erwarten ist. Radentscheide waren vor allem in großen (Universitäts-) Städten insofern erfolgreich, als dass sie zwar formal zurückgewiesen wurden, aber dank der Unterstützung durch soziale Bewegungen, Parteien, Stadtverordnetenversammlungen und (Ober-) Bürgermeister viele ihrer Ziele trotzdem erreichen konnten.

Uns wurde noch bewusster als vorher, dass wir in Groß-Gerau in einem stark autozentrierten sozialen Umfeld leben. Aufenthaltsqualität wird oft mit einer hohen Anzahl von Kfz-Parkplätzen gleichgesetzt. Zwar gibt es viele Menschen, die das ändern möchten, davon sind aber nur wenige bereit, sich politisch einzusetzen und zum Beispiel Unterschriften zu sammeln.

Für die Verbesserung der Bedingungen für den Rad- und Fußverkehr werden wir uns weiterhin einsetzen und dafür auch die Bürgermeisterwahl sowie die Landtagswahl im Oktober 2023 nutzen. Unsere Jahresplanung wollen wir bei einem offenen Treffen am 9. März ab 19 Uhr im Kulturcafé gestalten. Alle Interessierten sind herzlich willkommen!

Was muss Ihrer Meinung nach konkret umgesetzt werden, um die Kreisstadt für Fußgänger und Radfahrer attraktiver zu machen und ein flüssiges, sicheres Nebeneinander mit dem motorisierten Verkehr zu gewährleisten?

Norbert Sanden: Auch für Groß-Gerau gilt, dass die übertriebene jahrzehntelange Bevorteilung des Autos bei der Aufteilung des öffentlichen Raumes, der Finanzierung sowie der Stadtgestaltung zu einem Ende kommen sollte. Der ÖPNV, der Rad- und Fußverkehr müssen gestärkt werden, auch in der Hoffnung, dass dadurch die übergroße Vorliebe für die gewohnheitsmäßige Autonutzung gedämpft wird.

Dass der enorme Durchgangsverkehr durch die Innenstadt hingenommen wird, zeigt, dass eine Verkehrswende im lokalen Raum nicht angestrebt wird. Die Darmstädter, Gernsheimer und Frankfurter Straße sind für den Kfz-Verkehr weiterhin einladend, an Parkplätzen mangelt es nicht. Auch dass die Stadt mit ihren eigenen 1.000 Parkplätzen abzüglich der Kosten jährlich weniger als 10.000 Euro erwirtschaftet, ist ein Hinweis darauf, dass sich an der Autodominanz nichts geändert hat. Andere Städte finanzieren mit Einnahmen aus der Parkraumbewirtschaftung nicht nur Anlagen für den nicht-motorisierten Verkehr, sondern versuchen, damit auch den Kfz-Verkehr zu lenken und einzuschränken.

Wir sind uns dessen bewusst, dass die Lenkung des Kfz-Verkehrs in der Innenstadt so erfolgen muss, dass die derzeitige Mischung aus attraktiven Geschäften und einer vielfältigen Gastronomie nicht gestört, sondern gesichert und verbessert wird. Das ist keine triviale Angelegenheit. Wir bemühen uns daher, auch zum Gewerbeverein Kontakt zu halten.

Auf die Sicherheit und Attraktivität des Radverkehrs würde sich – mit Ausnahme von Nord- und Südring – eine generelle Einführung von Tempo 30 gut auswirken. Aber selbst, wenn die Stadtpolitik es wollte, wäre dies aus rechtlichen Gründen nicht machbar. Wir unterstützen daher die Forderung des Deutschen Städtetages, das Straßenverkehrsgesetz so zu ändern, dass der Verkehr sicherer, gesünder und klimaschonender gestaltet werden kann.

Wo sehen Sie Deutschland insgesamt in Bezug auf die Verkehrswende und speziell hinsichtlich des Radverkehrs? Wird genug getan? Was ist noch nötig?

Norbert Sanden: Die Autos werden von Jahr zu Jahr zahlreicher, sie haben mehr PS und werden größer. Autobahnen werden weiterhin ausgebaut, der Öffentliche Verkehr ist in einem miserablen Zustand. Weder der Rad- noch der Fußverkehr werden als Verkehrsträger hinreichend ernst genommen. Die Klimaziele im Verkehrssektor werden nicht erreicht. Am Verkehr teilzunehmen, egal mit welchem Verkehrsmittel, macht nicht wirklich Freude, was die allgemeine Rücksichtslosigkeit und Aggressivität weiter verstärkt.

Die Verkehrswende hat bislang nicht stattgefunden, aber es gibt Schritte in diese Richtung. Dazu zählt die geplante Einführung des Deutschladtickets. Ohne zusätzliche Finanzmittel ist allerdings zu befürchten, dass sich die Qualität des öffentlichen Verkehrs nicht verbessern wird. Für den Radverkehr ist positiv zu bewerten, dass Fördergelder, die der Bund und das Land Hessen den Kommunen zur Verfügung stellen, in den letzten Jahren stark gestiegen sind, wenn auch im Verhältnis zu den Versäumnissen der Vergangenheit nicht in ausreichendem Maße. Leider gehört Groß-Gerau zu denjenigen Kommunen, die diese Fördergelder nicht nutzen wollen.

Nach langen Jahren, in denen CSU-Politiker an der Spitze des Bundesverkehrsministeriums standen und eine automobilfreundliche und auf Bayern fokussierte Linie verfolgten, haben wir nun seit der letzten Bundestagswahl einen Bundesverkehrsminister von der FDP. Hat sich aus Sicht des ADFC etwas geändert?

Norbert Sanden: Volker Wissing ist seit Dezember 2021 Bundesverkehrsminister. Seit dieser Zeit, wartet die im Koalitionsvertrag vereinbarte stärkere Förderung des Radverkehrs auf ihre Umsetzung. Eine vom ADFC und dem Deutschen Städtetag seit Jahren geforderte Modernisierung des auf den Autoverkehr fokussierten Straßenverkehrsgesetzes steht unerledigt auf der Agenda. Sollte ein reformiertes Gesetz für besseren Klimaschutz, nachhaltige Stadtentwicklung, für mehr Radverkehr und Verkehrssicherheit in seiner Amtszeit verabschiedet werden, dann wird Minister Wissing sicherlich in die (Rechts-) Geschichte eingehen. Hier ist aber Skepsis angebracht.

Norbert Sanden
ist Erster Sprecher des ADFC Stadt Groß-Gerau;
norbert.sanden@adfc-stadtgg.de

www.kreisgg.adfc.de

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