Worüber die Leute reden (316)

Die Invasion Russlands in der Ukraine, die Ausmaße des Krieges, die große Zahl an Geflüchteten und die schrecklichen Bilder vom Massaker in Butscha führen zu immer mehr Solidaritätsbekundungen und Hilfsleistungen zugunsten der Angegriffenen und Opfer. Fast nebensächlich mag es es da Jüngeren erscheinen, wenn der Verein „Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau“ zu sogenannten „zeitgeschichtlichen Rundgängen“ einlädt wie jüngst in Trebur. Doch diese Vergangenheitsbewältigung ist gerade in diesen Tagen so bedeutsam wie eh und je: Stolpersteine (man mag von dieser Art Symbole halten was man will) zeugen nicht nur in der Hauptstraße der Großgemeinde, sondern in vielen anderen Orten des Gerauer Lands vom unfassbaren Schicksal, das Menschen nach 1933 widerfahren ist. Gut, dass die Erinnerung wachgehalten wird, gerade in diesen Wochen.

Die erwähnte Solidarität mit der Ukraine drückt sich in einer Initiative des Stadtparlaments Groß-Gerau aus, das nicht nur den Angriffskrieg Russlands verurteilt. Putins Krieg richte sich auch gegen die demokratische Freiheit, heißt es beispielsweise. Angestrebt wird nun eine Patenschaft mit einer Stadt in der Ukraine, auch wenn Bürgermeister Erhard Walther bekundet haben soll, nicht recht zu wissen, was eine Patenschaft bringe. Kurz vor Redaktionsschluss war eine Zahl von mehr als 1200 Flüchtlingen gemeldet worden, die kreisweit schon aufgenommen worden sei. Walthers Vorschlag, die leer stehende Schwenkschule als Unterbringung und Ort der Begegnung zu nutzen, hat allerdings etwas Praktikables.

Angesichts des Krieges und seiner (nicht nur) wirtschaftlichen Folgen für uns alle muten die beinahe schon alltäglichen Wehwehchen unserer Gefilde wie Luxusproblemchen an, wobei ausdrücklich nicht die persönlichen Auswirkungen einer Arbeitslosigkeit gemeint sind. So zu beobachten beim Wechsel von Real zu Edeka in der Kreisstadt, wo 14 bisherige Real-Mitarbeiter zum Verlassen des Unternehmens gedrängt worden sein sollen, nachdem sie sich zuvor kritisch zum Betriebsübergang geäußert hatten – und dann von Real finanziell abgefunden wurden. In den Tagen nach der Eröffnung war davon bei einer (freilich nicht repräsentativen) Umfrage unter Kunden vor dem Markt durchweg nichts bekannt. Vielleicht war es den Leuten wichtiger, genügend Mehl, Sonnenblumenöl und Toilettenpapier kaufen zu können?

Eine Luxusdebatte ganz anderer Art leistet sich gerade die Gemeinde Nauheim. Es geht um den Kauf eines Drehleiterfahrzeugs für die Feuerwehr. Zwei Gründe werden angeführt: Zwei, drei Minuten zu lange Einsatzzeiten, wenn im Notfall die „Drehleiter“ aus Groß-Gerau gebraucht wird. Und zwei relativ neue Mehrfamilienhäusern ohne zweite Rettungswege, die baurechtlich vorgeschrieben sind. Die Anschaffungskosten werden auf rund 900.000 Euro geschätzt. Luxus ist es, wenn sich eine parlamentarische Mehrheit nicht mit dem Angebot für rund 650.000 Euro für ein Vorführfahrzeug befassen mag, obwohl ein Förderbescheid der Hessenkasse über 700.000 Euro winkt. Was wohl Geflüchtete über solche Sorgen denken?

Das könnte dich auch interessieren …