Durch bewegte Zeiten

Von Walter Keber.
Mit Unterstützung der Kreissparkasse Groß-Gerau ist 2007 das Buch „Gesichter & Geschichten aus dem Kreis Groß-Gerau“ im Welzenbach Verlag erschienen (263 Seiten, 19,80 Euro). Es enthält 123 Porträts, verfasst von dem Journalisten Walter Keber (wkeber@t-online.de). Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor druckt das WIR-Magazin diesmal einen Beitrag, der über Dr. Heinrich Klingler, Klein-Gerau, verfasst wurde.
„So langsam drohte dieses Klein-Gerau in Büttelborn aufzugehen und wir wollen diese Identität erhalten, so weit dies möglich ist.“ Nein, Dr. Heinrich Klingler war kein Kirchturm-Patriot oder gar politischer Separatist in der Großgemeinde Büttelborn. Vielmehr engagierte sich der überzeugte Klein-Gerauer für Heimatpflege und -kunde im besten Sinne, half ebenso fachkundig wie engagiert, dass die Geschichte des Gemeinwesens und seiner Menschen bewahrt und in vielen Fällen zusätzlich erhellt wird. Als gelernter Naturwissenschaftler und Studiendirektor ging Dr. Klingler hierbei mit großer Akkuratesse vor. Akribisch wurden die Nachforschungen betrieben. Alles wurde exakt angepackt und musste in den Archiven belegt werden.
Nicht zuletzt deswegen galt Dr. Klingler, der 1987 wesentlichen Anstoß zur Gründung der „Heimatpflege“ in Klein-Gerau gegeben hat, vielen als die Autorität in der Heimatgeschichte am Ort. Doch beschränkte er sich auch hierbei keineswegs nur auf das Geschehen in der eigenen Gemarkung, stellte vielmehr Klein-Geraus Geschichte, Verkehrsanbindungen und anderes mehr in den Zusammenhang mit der Umgebung, beispielsweise als eines der vier Walddörfer im Gerauer Land.
Klein-Gerau war die Familie des am 23. März 1930 Geborenen seit rund 250 Jahren verbunden, hat tiefe Wurzeln geschlagen. Und sein Großvater zählt zu jenen Pionieren, die im ausgehenden 19. Jahrhundert den Spargel ins Ried gebracht haben, wo dieser heute als landwirtschaftliche Sonderkultur einen großen wirtschaftlichen Stellenwert hat und unter anderem mit den kreisweiten Groß-Gerauer Spargeltagen gefeiert wird. Dass Spargelanbau keineswegs nur eine lukullische Bedeutung hat, das macht Dr. Klingler mit Verweis auf historische Untersuchungen klar: Spargel-, Gemüse- und Obstanbau sowie der Bau der Eisenbahn 1858 hätten den Menschen – nicht nur in Klein-Gerau – neue wirtschaftliche Möglichkeiten geboten, im harten Existenzkampf zu überleben und eine Zukunftsperspektive hierzulande eröffnet. Eine Folge davon sei: Die Auswanderung sei deswegen in diesem Raum spürbar zurückgegangen. „Die ärmeren Schichten hatten plötzlich Arbeit und ein Auskommen.“
All dies gehört ein wenig auch zur eigenen Familientradition. Früh wurde Heinrich Klingler mit Landwirtschaft konfrontiert. Das machte ihm nicht nur Freude, sondern prägte vieles an seinem Lebensweg. Nach dem Abitur studierte er bis 1956 Chemie und Biologie an der TH Darmstadt, machte seine Diplomarbeit über Pflanzenkrankheiten und -schutz. Über seinen damaligen Tagesablauf berichtet er schmunzelnd: Morgens habe er im elterlichen Anwesen Ziegen gefüttert, sei anschließend zur Hochschule gefahren und habe studiert. Abends habe wieder praktische landwirtschaftliche Betätigung angestanden. Weitere Stationen waren Hannover und Gießen, dann folgte für den inzwischen zum Dr. rer. nat. Promovierten „Eine Zäsur“. Weil seine Mutter einen Herzinfarkt bekam, der Vater an den Folgen schwerer Kriegsverletzungen litt, entschloss sich Klingler nach Klein-Gerau zurückzukehren.

Er hatte Glück, zu dieser Zeit wurden dringend Naturwissenschaftler als Lehrer gesucht, und die Schulbehörde freute sich über die Bewerbung eines so hoch qualifizierten Mannes. Ihm wurde dabei zugesagt, wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen seiner Eltern in diesem Raum beruflich eingesetzt zu werden. Für die neuen Aufgaben zusätzlich qualifiziert, arbeitete Dr. Klingler zunächst als Referendar und Assessor fürs höhere Lehramt, von 1965 an bis zum Ausscheiden in den Ruhestand (1992) am Groß-Gerauer Gymnasium Prälat-Diehl-Schule (PDS). Sein Fächerkanon setzte sich aus Chemie, Biologie und Geographie sowie dem neuen Fach Sozialkunde zusammen. Das Amt als Personalratsvorsitzender – 1969 und 1970 – legte er nieder, als er zum Studiendirektor berufen wurde. An seiner Schule zählte er mit zum Leitungsteam, war einer der bekanntesten Lehrer. Es war eine oft unruhige Zeit, die Folgen von Umzug und Gebäude-Wechsel, aber auch die bewegte gesellschafts- und bildungspolitische Diskussion um Hessens Schulreform galt es zu verkraften. Hierzu brachte Dr. Klingler in einer Kommission zur Erstellung von Bildungsplänen seine Fachkompetenz ein. Klingler pflegte einen besonderen Unterrichtsstil. „Mir ging es darum, dass experimentiert werden konnte.“ So habe das Interesse der Schülerschaft zusätzlich geweckt werden können, und das habe alles sehr belebt. Nicht zuletzt deswegen setzte er sich dafür ein, dass die Schule immer mit modernstem Gerät ausgestattet war. Der Kreis als Schulträger sei dafür sehr aufgeschlossen gewesen.
Obwohl beruflich gut ausgelastet, engagierte sich Klinger zudem ehrenamtlich. Zum einen wirkte er von 1962 bis 1978 im evangelischen Kirchenvorstand, war zeitweilig Präses des Dekanats Groß-Gerau. Von 1964 bis 1976 saß er für die Wählervereinigung im Gemeindeparlament Klein-Geraus. Über Fraktionsgrenzen hinweg pflegte er ein gutes menschliches Verhältnis, weshalb er bis heute Ansehen genießt und auch wegen seiner unkomplizierten menschlichen Art als Gesprächspartner geschätzt wurde. Manchmal sei das eine „Hundearbeit“ gewesen, weil man als Wählervereinigung alles selbst habe machen müssen und nicht auf eine Kreis- oder Landespartei zurückgreifen habe können, dennoch: „Es hat Spaß gemacht.“
Weil ihm Klein-Geraus Historie immer am Herzen gelegen hatte, trug er 1987 zur Gründung der Vereinigung „Heimatpflege“ maßgeblich bei. Der Erhalt und die Nutzung des alten Rathauses durch einen Trägerverein waren herausragende Aufgaben. Nicht nur der Kampf gegen den Zahn der Zeit, der am Fachwerkbau stark geknabbert hatte, sorgte für Beschäftigung: Es musste buchstäblich der Dreck der Jahrhunderte weggeräumt werden! Vor allem aber galt es, meist völlig ungeordnetes Archivmaterial und Unmengen Papier für eine vernünftige Nutzung zu sortieren. „Es galt die Geschichte von Klein-Gerau zu dokumentieren.“ Dabei stieß man auf viele Schätze. So gelang es laut Klinger, die Ortsgeschichte bis zum 30-jährigen Krieg zurück ziemlich verlässlich aufzuzeigen. Dabei halfen unter anderem die mit wenigen Ausnahmen noch vorhandenen Bürgermeister-Rechnungen vergangener Tage. Hierin wird über die Entwicklung des Ortes Rechenschaft gegeben, keineswegs nur mit nackten Zahlen, sondern auch mit aufschlussreichen Anmerkungen. Dies alles zahlte sich nicht nur fürs Ortsjubiläum, sondern auch für viele Publikationen mit über 500 Aufsätzen aus. Hinzu kam, dass Dr. Klingler aufgrund langjähriger Verbindungen zur Denkmalpflege und eigenen Ausgrabungen in der Gemarkung Material für Ausstellungen gewinnen konnte, was alles viel Anklang fand.
In manchen Fällen sei man gerade noch rechtzeitig mit der historischen Spurensicherung gekommen, betonte Klingler. Dies gelte beispielsweise für Spuren mittelalterlicher Landeskulturen, Grenzgräben und Waldweidegebiete – oder auch wichtige Wegverbindungen. Nicht vergessen wurde bei alledem die Geschichte der jüdischen Bürger, beispielsweise ihrer Mikwe zur rituellen Waschung, oder es wurde durchgesetzt, dass heute an das abgerissene Gottschall-Haus eine Gedenktafel erinnert.