Letzte Tage im Krieg

Von Norbert Gröss.
In seinem Buch „Es begann 1936“ hat Norbert H. Gröss unter anderem auch seine persönlichen Kindheits-Erinnerungen an die letzten Kriegstage in Groß-Gerau und dem Gerauer Land aufgezeichnet.
Es war Anfang 1945 und den meisten realistisch denkenden Menschen war klar, dass der Krieg verloren war. Die Nachrichten aus dem „Volksempfänger“ (Radio) malten täglich Horrorszenarien über die Grausamkeiten, die wir von den Feinden zu erwarten hätten. Wir alle sollten heldenhaft, bis zum letzten Blutstropfen, für den Führer kämpfen bis zum Endsieg, der bestimmt kommen würde. Als Kind glaubte man alles, was aus diesem Radio kam. Etwas Gegenteiliges erzählten uns auch die Erwachsenen nicht. Denn es drohte die Todesstrafe wegen Wehrkraftzersetzung.
Zur Verteidigung meiner Familie hatte ich mir ein altes verrostetes Schwert besorgt, das halb so groß war wie ich. Es wurde mit dem alten Handgriff einer alten Feile versehen und an den Sandsteinpfosten am Eingang des Kindergartens in der Steinstraße entrostet und geschärft. Die Spuren sieht man noch heute. Das Schwert hatte ich einem „Hinnergässer“ Bub abgehandelt. Sein Vater hatte es mit anderen alten Gegenständen beim Ausgraben eines Kellers, der als Schutzraum dienen sollte, gefunden.
In den letzten Wochen des Krieges mussten wir nicht nur nachts in den Luftschutzbunker. Auch tagsüber gab es Fliegeralarm. In dieser Zeit war der Weg zum Bunker gefährlich – auch ich musste das erleben. Die Jagdbomber (JABOS) beherrschten tagsüber den Luftraum über uns und schossen auf alles was sich bewegte. Das machte die feindlichen Piloten nicht zu Freunden der Zivilbevölkerung. Auf dem Weg zum Bauern Leusler in der Mainzer Straße, wo meine Brüder und ich ab und zu als Aushilfen auf Hof und Feld gegen Naturalien arbeiteten, mussten wir mit ansehen, wie fanatische Passanten vor dem Haus zwei junge Piloten entdeckten. Etwa fünf bis acht Personen, meist Frauen, stürzten sich wie wilde Furien hysterisch schreiend auf die armen Kerle und schlugen mit allen möglichen Gegenständen auf sie ein. Kurz darauf jagte die deutsche Militärpolizei den Mob auseinander. Die verletzten und blutenden Piloten warfen sie wie Mehlsäcke auf ein Militärfahrzeug und fuhren davon. Die deutsche Militärpolizei war bei der Zivilbevölkerung, wie auch beim Militär, sehr unbeliebt. Wegen der großgliedrigen Ketten, an denen ein großes Messingschild befestigt war, nannte man sie auch „Kettenhunde“.
Am 21. März 1945 waren die amerikanischen Truppen zum Rhein vorgestoßen und hatten Oppenheim eingenommen. Von dort aus beschossen sie einige Tage fast ununterbrochen Groß-Gerau mit ihrer schweren Artillerie. Zuerst hörte man den Abschuss, dann ein näherkommendes Pfeifen und schließlich die Einschlagsexplosion. An der Lautstärke des Pfeiftons konnte man erkennen, in welcher Entfernung sie ungefähr einschlugen. Unser Haus in der Steinstraße stand genau in der Richtung, aus der die Granaten aus Oppenheim kamen. Das Haus Jacobi gegenüber war niedriger und dadurch weniger gefährdet. So bot der freundliche Bauer meinen Eltern an, dass wir Kinder in einem Teil seines Kellers schlafen konnten. Im oberen Stock des Jacobihauses war eine deutsche Funkstation. In der Nacht wurden wir durch einen lauten Knall geweckt. Da nicht mehr passierte, schliefen wir weiter. Am nächsten Morgen war unsere Bettdecke mit Staub bedeckt und als wir in den Hof kamen, sahen wir ein großes Loch an der Stelle, wo die Funkstation war. Wir dachten erst, die Amis hätten es geschafft, die Funkstation zu treffen. Doch wie sich später herausstellte, hatten die abziehenden deutschen Soldaten sie selbst in die Luft gesprengt.

Die Ernährunglage wurde jetzt immer schlechter und man bekam nur noch ein Teil der Lebensmittel, die auf den Lebensmittelkarten aufgeführt waren. So waren wir gezwungen, selbst für den Lebensunterhalt zu sorgen. Die Ernte aus unserem etwa 200m² großem Schrebergarten (heute ist hier die Kläranlage am Mühlbach) war ein wichtiger Beitrag, ebenso wie das nachsuchen (stoppeln) der bereits abgeerntete Getreidefelder nach verlorenen Ähren. Sie dienten als Hühnerfutter (Fleisch und Eier) und wurden zu Mehl für Brot und Kuchen. Am frühen Morgen vom 23. auf den 24. März 1945 rollten die ersten Panzer in Groß-Gerau ein. Darüber demnächst mehr.