Wendepunkt in der Psychiatrie

Von Ulf Krone.
Im Jahr 1975 machte eine vom Deutschen Bundestag eingesetzte Kommission auf gravierende Missstände in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen in der Bundesrepublik Deutschland aufmerksam und leitete Reformen ein, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums dieser Untersuchung, der sogenannten Psychiatrie-Enquête, findet am Montag, den 29.09.2025 (13.00 bis 16.30 Uhr) eine Veranstaltung in der Groß-Gerauer Kreisverwaltung statt.
Dr. Monica Schol-Tadic, Leiterin des Fachdienstes Sozialmedizin im Gesundheitsamt, Psychiatriekoordinatorin und Vorsitzende des Gemeindepsychiatrischen Verbundes des Kreises Groß-Gerau, erklärt genauer worum es geht.
Frau Dr. Schol-Tadic, 50 Jahre sind eine lange Zeit. Wie war die psychiatrische Versorgungsituation damals, was brachte die Enquête ans Licht?
Dr. Monica Schol-Tadic: Der Bericht der Kommission hat über 400 Seiten – aber kurz gesagt: die Versorgung war menschenunwürdig. Psychiatrien glichen häufig riesigen Verwahranstalten, die weit entfernt vom ursprünglichen Zuhause der Patientinnen und Patienten lagen. Viele Menschen waren in Sälen mit zehn oder zwanzig Betten untergebracht. „Die ärztliche Versorgung ist besorgniserregend“ – „katastrophal ist der Mangel an Sozialarbeitern“ ist im Bericht zu lesen. Ambulante oder teilstationäre Angebote gab es kaum. Daher ist es nicht überraschend, dass fast zwei Drittel der Patientinnen und Patienten länger als zwei Jahre und fast ein Drittel sogar länger als zehn Jahre in dem psychiatrischen Krankenhaus blieben und lebten.
Was hat sich durch die Enquête verändert?
Dr. Monica Schol-Tadic: Die Kommission beleuchtete nicht nur systematisch die Ist-Situation, sie rief auch zur Veränderung und Neuordnung auf. In der Folge entstanden viele neue Konzepte, die den Übergang von stationärer zu ambulanter Behandlung und Begleitung erleichterten. Sozialpsychiatrische Dienste und gemeindepsychiatrische Angebote wurden neu geschaffen und/oder ausgebaut, um Betroffenen Hilfen außerhalb psychiatrischer Kliniken zu bieten. Diese Entwicklungen führten auch zu einer veränderten Rolle der Psychiatrie: weg von Verwahrung, hin zu einer therapeutisch und rehabilitativ orientierten Versorgung. Die Enquête setzte weiterhin ein Zeichen für eine stärker patientenorientierte Psychiatrie, in der Betroffene nicht nur Empfänger von Behandlung, sondern aktive Gestalter*innen ihres Krankheits- und Genesungsprozesses sind.
Am 29.09.2025 gibt es anlässlich des Jubiläums eine Veranstaltung in der Groß-Gerauer Kreisverwaltung. Auf was können sich die Gäste freuen?
Dr. Monica Schol-Tadic: In der Veranstaltung wollen wir auf unseren Kreis schauen. Wir wollen beleuchten, wie es hier damals war, wo wir heute stehen und was zu tun ist. Die Gäste können sich entsprechend auf ein buntes Programm freuen. So konnten wir eine Ärztin als Referentin gewinnen, die damals in der Riedstädter Psychiatrie, dem Philippshospital, leitend gearbeitet hat. Sie wirkte gleichzeitig als Mitglied der Enquête-Kommission aktiv am Bericht mit. Wir haben auch weitere Zeitzeugen zu Gast und kommen mit Betroffenen, Angehörigen, Fachkräften und der Politik ins Gespräch. Ergänzt wird das Angebot durch eine Ausstellung und den Stand einer Kreativgruppe.
Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, insbesondere Betroffene, sowie ihre Angehörigen und Zugehörigen. Die Veranstaltung ist kostenfrei, wir freuen uns über Anmeldungen unter www.kreisgg.de/psychiatrie-enquete.
Frau Dr. Schol-Tadic, Sie sprechen oft von „wir“. Vom wem wird die Veranstaltung eigentlich durchgeführt?
Dr. Monica Schol-Tadic: Die Idee zur Veranstaltung kam von Elisabeth Israel, eine der beiden Geschäftsführungen der SPV Gemeindepsychiatrische Angebote gGmbH. Die SPV mit ihren unterschiedlichen Angeboten für Menschen mit psychischen Störungen kann sozusagen als „Kind der Psychiatrie-Enquête“ gesehen werden, weil es sie ohne die entsprechenden Reformen vermutlich gar nicht geben würde. Die Umsetzung der Veranstaltung erfolgte dann durch den Gemeindepsychiatrischen Verbund des Kreises Groß-Gerau, einem verbindlichen Zusammenschluss von unterschiedlichen Leistungserbringern und Leistungsträgern in der rehabilitativen und psychosozialen Versorgung psychisch kranker Menschen mit dem Ziel, gemeinsam eine bedarfsgerechte Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Kreis sicherzustellen.