Niedrigschwellig und vertrauensvoll

Von Rainer Beutel.

Seit knapp einem Jahr residiert die Erziehungsberatungsstelle des Kreises in der Odenwaldstraße 2B. Die Räume dort sind einladend, gemütlich, bieten Raum für vertrauliche Gespräche und verringern mit einer hellen, freundlichen Gestaltung jede Schwellenangst. Doch wie hilft die Einrichtung, die seit 1978 in der Kreisstadt und seit 1997 in Riedstadt (insgesamt 13 Beschäftigte) existiert, ratsuchenden Menschen? WIR-Redakteur Rainer Beutel hat sich bei Leiterin Nicole Liederbach erkundigt.

Frau Liederbach, welche zentralen Aufgaben und Ziele verfolgt die Erziehungsberatungsstelle im Kreis Groß-Gerau?

Nicole Liederbach: Als Erziehungsberatungsstelle (EB) sehen wir uns als Ansprechpartner für alle Menschen, die mit Kindern zusammenleben. So ein Familienalltag kann mitunter sehr anstrengend und turbulent sein. Die EB kann für Eltern, Kinder und Jugendliche als Entlastung und Unterstützung im Sinne von „mal erzählen können“, „auf ein offenes Ohr treffen“ gesehen werden. Wir entwickeln gemeinsam neue Ideen für ein gutes Zusammenleben und bestmögliches Miteinander. Es kommen Personen zu uns, bei denen Veränderungen anstehen (z.B. Einschulung, Pubertät, Umzug, Trennung etc.) oder auch bei Krisen jeglicher Art.

Das ist nicht alles, oder?

Nicole Liederbach: Richtig, darüber hinaus beraten wir im Rahmen von § 8a SGB VIII Fachkräfte im Kinderschutz, halten Gruppenangebote vor (z.B. die „Cool Kids“ – Trennungs- und Scheidungsgruppe) und nehmen an Elternabenden in Schulen und Kitas auf Anfrage teil. Auch sind wir bei Netzwerktreffen und Kampagnen in den einzelnen Kommunen vertreten (z.B. „Mein Körper gehört mir“; „Brich Dein Schweigen“). Wichtig für unsere Arbeit ist, dass wir ein niedrigschwelliges und vertrauensvolles Angebot für die Menschen im Kreis Groß-Gerau vorhalten.

Mit welchen besonderen Problemfällen oder Herausforderungen werden Sie und Ihr Team in der täglichen Arbeit konfrontiert? 

Nicole Liederbach: Im Leben von Kindern, Jugendlichen und Familien gibt es viele Herausforderungen. Es gibt sowohl Alltagsthemen wie z.B. Arbeitslosigkeit, seelische und psychische Belastungen, Trennung/Scheidung, Schulschwierigkeiten oder häufiger Handy- und Medienkonsum, als auch schwierige Themen, wie z.B. Gewalt oder Sucht. Sie beeinflussen immer häufiger Familien in ihrem Alltag. Wir beobachten, dass die Familien, die zu uns kommen, meist eine Vielzahl von Themen auf dem Herzen haben. Familien müssen heutzutage eine Menge leisten. An dieser Stelle wollen wir gerne unterstützen und Eltern sowie Jugendlichen und Kindern zeigen, dass sie nicht allein sind. 

Welche konkreten Leistungen und Unterstützungsangebote bieten Sie Familien, Eltern, Kindern und Jugendlichen an, um Konflikte zu lösen?

Nicole Liederbach: In erster Linie Beratung – für Eltern, Jugendliche, Kinder, aber auch Großeltern oder andere Menschen, die mit Kindern leben. Wir wollen bestmöglich erreichbar sein und machen auch, wenn es mal schnell gehen muss, einen kurzfristigen Termin möglich. Seit 2023 bieten wir an unserem Standort in Groß-Gerau einmal wöchentlich die offene Sprechstunde an. Zudem sind wir in Kitas, Schulen und Familienzentren, auch im Südkreis, mit der „EB vor Ort“, einer Art Sprechstunde, vertreten. Unser Anliegen ist es, Familien möglichst individuell zu betreuen. Zusätzlich bieten wir Gruppenangebote an und werden häufig zu speziellen Themen in Kitas und Schulen zu Elternabenden eingeladen.

Wie helfen Sie bei Konflikten zwischen Eltern?

Nicole Liederbach: In Trennungs- und Scheidungssituationen stehen Eltern meist vor der besonderen Aufgabe, eine Einigung darüber zu finden, wo das Kind bzw. die Kinder ihren Lebensmittelpunkt haben, wer die Kinder wann und wie sieht. Es gibt vermehrt hochstrittige Beratungen zu diesem Thema, die teilweise vom Familiengericht oder dem Jugendamt zu uns geschickt werden. Wir begleiten und beraten dann Familien, um sich in dieser neuen Lebenssituation gut zurecht zu finden.

Wie hat sich die Arbeit der Erziehungsberatungsstelle in den zurückliegenden Jahren verändert und welche neuen Themen gewinnen an Bedeutung?

Nicole Liederbach: Wie schon erwähnt: Trennung und Scheidung ist ein häufiges Thema in unseren Beratungen, meist auch sehr komplexe Familienkonstellationen. Wir versuchen einen Bezug zur Vielfalt herzustellen (z.B. Patchwork-Familien) und schauen mit den Familien ressourcenorientiert auf ihre schwierige Lage. Wir beobachten, dass wir mitunter nicht die erste bzw. einzige Anlaufstelle sind. Oftmals bestand zum Beispiel bereits Kontakt zur psychiatrischen Klinik oder dem Jugendamt oder ein Kontakt steht unmittelbar bevor. In diesem Fall ist es wichtig, dass wir uns mit den anderen Expertinnen und Experten austauschen können, um so der Familie eine passgenaue Hilfe bzw. Beratung anbieten zu können.

Sie deuten es an: Welche Rolle spielen Kooperationen mit anderen Institutionen wie dem Kinderschutzbund oder Schulen, und wie profitieren die Ratsuchenden davon?

Nicole Liederbach: Wir sind Teil des großen Netzwerkes der Jugendhilfe im Kreis Groß-Gerau, haben die Koordination des Netzwerks der Frühen Hilfe inne, leiten den Beratungsverbund und arbeiten sehr eng mit unseren Kooperationspartnern (z.B. Schulsozialarbeit, ASD, FD Kita, Polizei etc.) und anderen Beratungsstellen (Kinderschutzbund, Caritas, Diakonie, SPV, Profamilia, Wildwasser) zusammen. Wir treffen uns zu gemeinsamen Fachzirkeln, erarbeiten gemeinsame Konzeptionen. Damit kein Kind und keine Familie verloren gehen, nutzen wir das Netzwerk auch als Lotsenfunktion.

Wie gelingt es Ihnen, in Beratungsprozessen besonders sensibel auf die Bedürfnisse und das seelische Wohl von Kindern einzugehen, insbesondere bei Konflikten zwischen Eltern?

Nicole Liederbach: Wir sind ein multiprofessionelles Team (Psychologen, Pädagogen, Sozialpädagogen, Teamassistenten). Alle verfügen über mindestens eine Zusatzqualifikation. Wir können somit in unseren Beratungen auf eine Methodenvielfalt zurückgreifen, die den Familien im Kreis zugute kommt. Auch sind wir sehr gut innerhalb des Fachbereiches und in den Kommunen vernetzt.

Welche Möglichkeiten haben Kinder oder eher Jugendliche, sich möglicherweise ohne Wissen der Eltern an Ihre Beratungsstelle zu wenden, und wie wird deren Vertraulichkeit gewährleistet?

Nicole Liederbach: Grundsätzlich, wie im SGB VIII vorgesehen, ist es möglich, dass sich Kinder und Jugendliche vertrauensvoll an uns wenden. Vertraulichkeit hat einen sehr hohen Stellenwert in der Beratung. Der Einbezug der Eltern wird sorgfältig abgewogen und mit den Kindern und Jugendlichen vorab gemeinsam vorbereitet bzw. besprochen; auch anonym oder online. Hierfür kann man sich über unsere Homepage anmelden. Im Südkreis erweitern wir ebenfalls stetig das Angebot und sind dort in der Konzeptionsphase eines telefonischen Beratungsangebotes als Ergänzung.

Welche Wünsche oder Verbesserungsbedarfe sehen Sie für die Zukunft der Erziehungsberatung im Kreis Groß-Gerau?

Nicole Liederbach: Unser Wunsch ist es, die Familien zu stärken und frühzeitig passende Angebote vorzuhalten, was mit den „Frühen Hilfen“ aktuell schon möglich ist und weiter ausgebaut werden sollte. Ebenso sehen wir, dass die Belastungen der Familien steigen und haben im Blick, dass wir auch unser Netzwerk erweitern müssen und so noch stärker zum Lotsen werden. Den immer mehr werdenden Menschen mit psychischen Erkrankungen helfen wir, indem wir enger mit dem Gesundheitssystem, wie etwa dem sozialpsychiatrischen Dienst, kooperieren. Wir sehen auch, dass die Prävention in den Kommunen stärker in den Blick genommen werden muss und sind auch hier aktiv in der Planung konkreter Maßnahmen.

Erziehungsberatung Groß-Gerau

Kontakt: Groß-Gerau, Odenwaldstraße 2B, Riedstadt-Goddelau (Südkreis), Stahlbaustraße 4. Erreichbar: telefonisch, online/E-Mail, persönlich, der offene Sprechstunde am Standort GG (freitags 9 bis 11 Uhr), Sprechstunden vor Ort in Kindergärten, Familienzentren oder Schulen.

Zur Person: Nicole Liederbach, Diplom-Pädagogin und systemische Familientherapeutin, leitet die Erziehungsberatungsstelle seit 1. November 2022, seit fast 25 Jahren im Kreis GG tätig, zuvor 22 Jahre Mitarbeiterin und stellvertretende Fachdienstleiterin im Allgemeinen Sozialen Dienst (Schwerpunkt Kinderschutz).

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