Eine Groß-Gerauer WG

Von Ulf Krone.

Menschen mit Behinderungen haben es nach wie vor schwer in unserer Gesellschaft, auch wenn in den vergangenen Jahren einiges getan wurde, um ihnen den Alltag und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern. Und dabei sind bauliche Maßnahmen im öffentlichen Raum, wie barrierefreie Zugänge zu den Nah- und Fernverkehrsmitteln, zu Ämtern, Schwimmbädern und Museen, nur die Spitze des Eisbergs. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, wie den Betroffenen ein möglichst selbstbestimmtes und erfülltes Leben ermöglicht werden kann.

In diesem Bereich ist die Nieder-Ramstädter Diakonie (NRD) seit vielen Jahren tätig und unterstützt Menschen mit Behinderung bei fast allen Aspekten von der Wohnungssuche über die Haushaltsführung bis hin zum Aufbau eines Helfernetzwerks. Darüber hinaus betreibt die NRD selbst Wohngemeinschaften, in denen Menschen mit verschiedenen Behinderungen gemeinsam ihren Alltag gestalten, unterstützt von einem professionellen Team.

Eine solche Wohngemeinschaft ist auch im Herzen der Kreisstadt zu finden, wo insgesamt 17 Menschen gemeinsam ein großes, offen gestaltetes Haus bewohnen. Dass sie trotz ganz unterschiedlicher Beeinträchtigungen dennoch ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen und an der Gesellschaft teilhaben können, darum kümmert sich das engagierte 18-köpfige Team um Daniela Mitterer, die mich bei einem Besuch gemeinsam mit Kathrin Benz, Leiterin der Teilhabe der NRD im Kreis Groß-Gerau, durch die hellen und familiär gestalteten Räumlichkeiten führt.

Auf zwei Stockwerken hat jeder der Bewohner sein eigenes Zimmer, und im Erdgeschoss bietet ein großzügiger Gemeinschaftsbereich die Möglichkeit für gemeinsam verbrachte Zeit, inklusive eines schönen Außenbereichs mit Hochbeeten für Gemüse und Erdbeeren sowie einem herrlichen Blick auf den Turm der Stadtkirche. Und die zentrale Lage erlaubt es, auch einmal allein etwas einkaufen oder einen Kaffee trinken zu gehen, so wie es Gerhard, der aus Mörfelden stammt, hin und wieder gern tut. Er ist einer von drei Senioren, die ihren Alltag nicht länger allein bewältigen können und sich daher für die betreute Wohngemeinschaft entschieden haben.

„Die Heterogenität der Gruppe fordert vom Team eine hohe Flexibilität“, erklärt Kathrin Benz. „Denn wir haben es mit verschiedenen Menschen zu tun, das heißt: Menschen mit hohem Betreuungsbedarf und Menschen mit weniger Bedarf, weshalb wir ein multiprofessionelles Team haben – und es auch brauchen, um den ganz unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden zu können.“

So unterschiedlich wie die Bedarfe sind natürlich auch die Mittel, die – personenabhängig – von den Kassen zur Verfügung gestellt werden. Doch Kathrin Benz betont, dass die Kostenträger den Bedarf zu Aus- und Umbauten anerkennen, große Probleme seien aktuell aber die enorm gestiegenen Baukosten sowie der Mangel an Fachkräften.

„Wir suchen immer neue Leute und haben immer Bedarf“, bringt es Daniela Mitterer mit einem Lächeln, das zeigt, dass das kein neues Problem ist, auf den Punkt. Aber der Fachkräftemangel sei über die Jahre immer schlimmer geworden, so Kathrin Benz. „Ich sage es klar: Wir brauchen mehr Mitarbeiter. Wir suchen ständig – auch in Nebentätigkeit.“ Und dabei ist die Aufgabe durchaus attraktiv, wie Daniela Mitterer bestätigt. „Die Arbeit ist erfüllend, es macht Spaß, vor allem natürlich die Arbeit mit den Bewohnern. Wir können Menschen über einen längeren Zeitraum auf ihrem Lebensweg begleiten, aber es ist eben eine echte Herausforderung, das alles zu stemmen. Und dafür brauchen wir das entsprechende Personal.“

Dessen Aufgabe ist es unter anderem, den Bewohnern ein weitgehend selbstbestimmtes WG-Leben zu ermöglichen. So wird das Essen für die Bewohner nicht geliefert, sondern frisch im Haus zubereitet, und wer kann, darf natürlich bei den Vorbereitungen helfen, genauso wie bei den anderen alltäglichen Haushaltsarbeiten. Darüber hinaus werden gemeinsame Ausflüge und Aktivitäten unternommen, ganz so wie in jeder anderen WG.

Die besondere Herausforderung ist in diesem Fall, dass die meisten der Bewohner aufgrund ihres Krankheitsbilds nicht verbal kommunizieren. Deshalb arbeitet man auch mit der Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation zusammen und setzt Gebärden, Objekte, grafische Symbole oder technische Hilfe zur Unterstützung der Kommunikation im Alltag ein. Denn Kommunikation ist mehr als nur Sprache, und Nähe ist mehr, als nur miteinander zu reden. Deutlich wird das, als am Ende meines Besuchs eine junge Bewohnerin von ihrer Arbeit in der Behindertenwerkstatt zurückkommt und Daniela Mitterer wortlos lange umarmt, bevor sie in ihr Zimmer geht. Sie lächelt, und für dieses Lächeln hat es nicht viele Worte gebraucht, bloß ein Umfeld, das sich wie Zuhause anfühlt, und die richtigen Menschen. Und all das hat die junge Frau in der WG An der Kapelle gefunden.

www.gross-gerau.nrd.de/gross-gerau

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