Luftangriff auf Groß-Gerau
Von Norbert Gröss.
In der Nacht vom 25. auf den 26. August 1944 gegen 1 Uhr war Groß-Gerau das Ziel britischer Bomber. Sie luden, in nicht einmal einer Stunde, über 200 Sprengbomben und Luftminen ab. Dadurch wurden weite Teile der Innenstadt zerstört. Norbert Gröss, damals acht Jahre alt, erzählt aus seinen Erinnerungen.
Ich wundere mich oft, dass diese Erlebnisse so klar und deutlich in meinen Erinnerungen geblieben sind. Zur damaligen Zeit wurden auch uns Kindern die Kriegsereignisse und ihre Begleiterscheinungen so positiv wie möglich vermittelt – besonders durch das Radio.
Die einzige erlaubte Informationsquelle war oft der Volksempfänger. Alle Sender waren unter nationalsozialistischer Kontrolle und die Hersteller mussten ihn für einheitliche 35 Reichsmark produzieren (heute ca. 106 Euro). Er stand fast in jedem Haushalt, war das Sprachrohr der Nationalsozialisten und ein hervorragender Verbreiteter von Hitlers Propagandareden und Meldungen über angebliche Kriegserfolge. Andere Nachrichten waren verboten. Das galt besonders für Radios mit Kurzwelle, mit denen ausländische Sender, wie zum Beispiel das deutschsprachige Radio London, empfangen werden konnten.
Wir Kinder hatten unsere eigene Quelle, die wir das „Führerhauptquartier“ nannten. Friedl, etwa so alt wie wir, saß zu einer bestimmten Zeit auf einer Sandsteintreppe in der Frankfurter Straße (das Haus war bekannt als Marokko-Bunker, weil dort im Ersten Weltkrieg französische Marokkaner stationiert waren). Der Friedl wusste zu berichten über alle Kriegsereignisse. Ob sie stimmten oder nicht war uns egal, Hauptsache sie waren siegreich.
Doch den meisten, uns näher stehenden, Erwachsenen merkte man schon an der Stimmung und versteckten Bemerkungen an, dass sie an den Endsieg nicht mehr glaubten. Offen darüber zu reden wagte jedoch niemand. Das galt als wehrkraftzersetzend und war lebensgefährlich, wenn es den Falschen zu Ohren kam.
Schließlich nahmen die Fliegeralarme auch tagsüber zu, und wir verbrachten sehr viele Stunden im Luftschutzbunker hinter dem Kindergarten in der Steinstraße (Stoogass).
Der Ablauf war fast immer derselbe. Zuerst hörten wir aus dem Volksempfänger, wo die feindlichen Bomberverbände (100-250 Flugzeuge) die Landesgrenzen überflogen hatten und welchen Kurs sie einschlugen. Kamen sie in unsere Richtung, folgte nach eins bis zwei Stunden der Fliegeralarm. Dann ging es los: Raus aus den Betten und anziehen. Die Bunkerkleidung lag bereit wie bei der Feuerwehr.Mit meinen Eltern und sieben Geschwistern (zwei – zwölf Jahre) brauchten wir etwa zehn – 15 Minuten von unserer Mietwohnung in der Steinstraße bis zum Luftschutzbunker.
Meistens flogen die Bomberverbände an uns vorbei, doch einmal hatten wir das zweifelhafte Vergnügen, durch die Scheinwerfer der Flugabwehr, die Flugzeuge zum ersten Mal direkt über uns zu sehen. Es sah aus wie ein großer Schwarm Raubvögel und neben der Angst, dass einer abgeschossen wird und uns auf den Kopf fällt, war es das infernalische Geräusch von hunderten Flugzeugmotoren, das man im ganzen Körper spürte. Dazu kam noch die Begleitmusik der deutschen Flugabwehrkanonen (FLAK).
Am 26. August gegen 1 Uhr nachts öffneten die Bomber der britischen Royal-Air-Force ihre Bombenschächte über Groß-Gerau. Die Explosionen hunderter Sprengbomben waren wie ein Erdbeben. Besonders schlimm waren die Luftminen. Wenn sie einschlugen zitterte der ganze Luftschutzbunker und von der Betondecke lösten sich kleine Teile, die auf uns niederrieselten. Nach den Sprengbomben und Luftminen kamen noch unzählige Stabbrandbomben zum Einsatz. Das waren etwa sechs cm dicke sechseckige Stäbe, etwa 50 cm lang mit einem Aufschlagzünder. Die schon zum größten Teil zerbomten Häuser wurden durch den brennenden Phosphor endgültig zerstört. Nicht explodierte Brandbomben fand man oft noch Monate später an Stellen mit weichem Untergrund und dichten Hecken, wo der Aufschlagzünder nicht aktiviert worden war.
In dieser Nacht im August waren wir etwa 30–40 Personen im Luftschutzbunker. Die Atmosphäre war bedrückend, erschreckend ruhig und still. Die Luft war schwül und stickig, das Notlicht war schon nach den ersten Einschlägen aus und das wenige Licht der Feuerzeuge und Taschenlampen wirkte gespenstisch. Ich kann mich nicht erinnern, Angst gehabt zu haben. Vielleicht lag das an meinem Glauben, dass uns der Luftschutzbunker vor den Bomben schützen könne. Nach einer scheinbar unendlich langen Zeit hoffte ich jede Minute, dass es bald aufhört. Tatsächlich dauerte das ganze Inferno nicht einmal eine halbe Stunde. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.
Dann wurde es draußen still. Die Stahltüren wurden vorsichtig geöffnet. Mitten in der Nacht war es so hell wie bei einem nebelingen Sonnenaufgang. Doch der war beißender Rauch, der in den Augen brannte und das Atmen schwer machte. Der erste Blick auf unsere Stadt in Richtung evangelische Kirche war ein Schock, die Stadt ein Flammenmeer. Hinter uns war alles dunkel. Da wussten wir, dass unser kleines Viertel um die Steinstraße Gott sei Dank verschont geblieben war. Als ich mit meinen Brüdern Kurt (11) und Erwin (10) am nächsten Tag in die Stadt ging, sahen wir die Folgen des Infernos. Viele Straßen waren blockiert durch Schutt und Mauerreste, überall noch Brandherde in den Ruinen. Besonders schlimm sah es in der Darmstädter- und der Gernsheimer Straße aus. Dort sahen wir abgedeckte Leichen und viele tote Tiere, unter anderem Pferde und Kühe, besonders in der Helwigstraße. Dort lagen auch noch Teile eines abgestürzten Flugzeuges. Und wir beobachteten, wie eine tote Frau aus den Trümmern geborgen wurde. 230 Häuser waren zerstört, 300 stark beschädigt. 28 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt und etwa 1.000 Menschen obdachlos.
In der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 wurde Darmstadt Ziel der Bomben. Noch am nächsten Morgen war der Himmel grau vom Rauch der Großstadt, die zu 78 Prozent zerstört war. Fast 12.000 Menschen fanden den Tod. Auf den Bäumen und auf der Straße lagen große, graue Schneeflocken und es kamen noch mehr vom Himmel. Es war die Asche von verbrannten Papieren.