Nur wer sich ändert, bleibt sich treu

Von Siggi Liersch.

„Ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?“ Das sind deutliche Worte von Maria Gazzetti, der langjährigen Leiterin (1995 – 2010) des Frankfurter Literaturhauses. Für sie sind Gedichte überlebenswichtig.

Adorno hat 1951, den fürchterlichen und unfassbaren Holocaust noch vor Augen, den wohl bekanntesten Satz nach dem zweiten Weltkrieg zur damaligen Gegenwartslyrik geprägt: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Aber dann hätten wir Paul Celans „Todesfuge“ nicht, mit der uns der Schrecken der Vernichtung in eindringlichen Bildern vor Augen geführt wird. Für Gräser- und Blümchengedichte mag das Barbarische durchaus zutreffen, aber als mahnender Kommentar zu unserer zerstörerischen und bereits zerstörten Welt und Umwelt sicherlich nicht! Der Ukraine-Krieg zeigt das in diesen Wochen überdeutlich.

Gerade hier sind Gedichte gefragt, Stellungnahmen in der kürzesten Form menschlicher Äußerung. Wolf Biermann, Jahrgang 1936, ging als Siebzehnjähriger aus Überzeugung, nun im besseren deutschen Staat zu leben, in die DDR und wurde dort sozialisiert, in einem Staat, der in der Geschichte nur noch eine Erinnerung, quasi eine Fußnote darstellt. Er hat also einen anders geprägten Blick auf geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge als westdeutsche Autoren gleichen Alters. Sein Auswahlband „Mensch Gott!“ fasst Gedichte und Lieder zusammen, die er zeitlebens auch in seiner Beziehung oder Beziehungslosigkeit zu Gott geschrieben hat. Zwischen den Gedichtabteilungen finden sich biografische Äußerungen von Biermann, die diese Gedichte begleiten, aber nie kommentieren. Besonders interessant ist folgende Äußerung: „Erst in den fremdvertrauten Freiheiten der Demokratie begriff ich, daß jeder Versuch, das Himmelreich auf die Erde zu zwingen, die Menschen unentrinnbar in immer tiefere Höllen zwingt.“

Biermann ist nie ein eindimensionaler Kommunist gewesen. Sein berühmtes Lied „Ermutigung“ hat es bis in das Gesangbuch der protestantischen schwedischen Kirche geschafft. Darin heißt es: „Du laß dich nicht verhärten/ In dieser harten Zeit/ Die allzu hart sind, brechen/ Die allzu spitz sind, stechen/ Und brechen ab sogleich.“ Auf ihn konnte der SED-Staat nicht bauen, ihn konnte er nicht für seine Zwecke be- und ausnutzen. Der Band ist bei Suhrkamp erschienen, einem Verlag, der fraglos die wichtigsten Kapitel deutscher Nachkriegsliteraturgeschichte geschrieben hat. Biermann hatte ab 1965 Auftritts- und Publikationsverbot und war der bekannteste Repräsentant der kommunistischen Opposition im Land. Als er 1976 ausgebürgert wurde, fanden sich viele Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle in der DDR in einem gemeinsamen Protest. Vielen gilt diese große Protestbewegung in Ost und West als Anfang vom Ende der DDR. Dabei ist es nicht entscheidend, ob Biermann ein Kommunist oder sogar gläubiger Jude oder Christ ist, wichtig sind sein Umgang mit der Sprache, seine Skepsis, seine Einsichten und Ansichten, aber natürlich auch seine Standpunkte. Sein Gedicht „Einsam war ich lange Jahre“ schrieb er im Alter von 27 Jahren. Es ist das kürzeste in diesem Band: „Einsam war ich lange Jahre/ In dem Menschenwimmel/ Hatte überm Kopf nur Haare/ Unterm Haar nur Himmel.“

Wolf Biermann. Mensch Gott!, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2021, 192 Seiten, 22,00 Euro

Siggi Liersch ist Schriftsteller, Liedermacher und Kritiker; siegfried.liersch@gmx.de

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