Echte Fans kommen wieder
Von Rainer Beutel.
Dass sich die Corona-Pandemie auf Arbeit und Erfolg von Kulturschaffenden weltweit negativ auswirkt, ist bekannt. Auch die Vereine in der Region leiden massiv. Es mangelt an kommunaler Hilfe. Gleichzeitig wandelt sich das Konsumentenverhalten: Musikgenuss geht immer öfter digital. Wie der 1950 gegründete Nauheimer Musikverein betroffen ist, schildert Vorsitzende Silke Schneider (m.) im Interview mit WIR-Redakteur Rainer Beutel.
Frau Schneider, mal provokant gefragt: Haben Orchester in der regionalen Musikszene heutzutage überhaupt noch eine Chance, vor großem Publikum zu spielen? Nicht nur wegen Corona, auch wegen des allgemeinen Interesses.
Silke Schneider: Ach, ich denke schon. Wir müssen nur mal über den Rhein schauen nach Rheinhessen, da gibt es eine sehr lebendige Orchesterlandschaft, die regelmäßig die örtlichen Sport- bzw. Festhallen füllt. Ich spreche natürlich erst einmal nur von Blasorchestern, weil ich da durch persönliches Interesse, private Verbindungen und musikalische Vernetzung einen ganz guten Einblick habe. Ich bin sicher, dass es den dortigen Orchestern auch nach Corona wieder gelingt, Konzerte mit bis zu tausend Besuchern zu spielen. Das hat selbstverständlich etwas damit zu tun, dass dort ganz viele Kinder und Jugendliche bereits früh an die Musik herangeführt werden. Und dann kommt halt die komplette Verwandtschaft zum Jahreskonzert und hört voller Stolz zu.
Wie können Fans zurückgewonnen werden? Verlieren wir ein Stück (Musik-)Kultur?
Silke Schneider: Echte Fans müssen wir nicht zurückgewinnen, die kommen, sobald sie wieder dürfen. Aber nochmal: Ich denke, dass sich die Situation regional sehr unterschiedlich darstellt. Es gibt Gegenden in Deutschland, da „lebt“ die Blasmusik – und keineswegs nur die traditionelle oder klassische, sondern sehr moderne. In anderen Regionen war es schon immer oder ist es mittlerweile schwierig geworden. Nauheim ist so ein Ort, wo es heutzutage eher schwierig ist, Nachwuchs für die Orchester zu finden. Das ist immens schade, weil Nauheim jahrzehntelang einen hervorragenden Ruf besaß – und tolle Musikerinnen und Musiker.
Können Sie aus dem Umland Beispiele für Orchester nennen, denen wie dem Musikverein zumindest zeitweise ein überregionaler Bekanntheitsgrad geglückt ist? Man denke nur an die Auftritte des Nauheimer Traditionsorchesters bei der Internationalen Musikmesse in Frankfurt.
Silke Schneider: Ich glaube, da muss man gar nicht weit schauen. Das Opel-Werksorchester war zu seiner Zeit eine Institution. Aber auch mit meinem eigenen Jugendorchester habe ich in den 1980er Jahren viele, auch internationale Konzertreisen gemacht. – Warum? Weil wir für die Stadt Wiesbaden eine Art „Aushängeschild“ waren. Und wir hatten einen Leiter, der sich dafür eingesetzt hat. Das war dann eine Win-win-Situation: Die Stadt hatte über Jahre hinweg 50 jugendliche Kulturbotschafter und wir reisten zur Grünen Woche, in die europäischen Partnerstädte, später sogar einmal in die USA. Das muss man als Stadt natürlich nicht nur wollen, sondern auch aktiv unterstützen.
Auch Bands und kleinen Gruppen geht es nicht gut, so jedenfalls meine Wahrnehmung. Vor 20, 30 Jahren war die Szene in der Musikgemeinde wesentlich vielfältiger. Wie beurteilen Sie die Situation heute?
Silke Schneider: Ja, da haben Sie vermutlich Recht. Sie haben das ja alles sehr intensiv begleitet und können das vermutlich besser beurteilen als die meisten. Heute sehe ich in der Musikgemeinde eigentlich keine Musik-“Szene“. Wie auch, ohne Konzertsaal und Probenräume?
Was muss sich ändern? Was sollten Kommunen und der Kreis unternehmen? Reicht die kommunale und regionale Kulturförderung?
Silke Schneider: In Nauheim müsste man sehr weit unten ansetzen mit der Förderung. Hier fehlt es an allem. Ein zentraler Punkt, ich werde nicht müde, es zu wiederholen, sind die fehlenden Proben- und Aufführungsräume. Oder: Warum gibt es eigentliche keine von der Gemeinde getragene Musikschule? Wo sollen die Nachwuchskräfte denn herkommen, wenn wir sie nicht ausbilden (können)?
Tatsächlich gibt es immer weniger Nachwuchsorchester. Was stimmt an der Ausbildung nicht?
Silke Schneider: Hier komme ich ein bisschen ins Spekulieren. Meine persönliche These ist: Es gibt schon jede Menge Orchester, die aus jungen Leuten bestehen. Sie sind nur heutzutage Teil der weiterführenden Schulen. Wenn dann die Jugendlichen die Schule verlassen, hören sie quasi automatisch mit der Orchestermusik auf. Hier würde ich mir z.B. vom Kreis wünschen, dass Ganztagsschule ein Stück weit neu gedacht wird: Instrumentalunterricht und Musikklassen ja – aber eben auch Kooperationen mit den regionalen Vereinen. Und damit meine ich nicht, dass die Vereine in die Schulen gehen und dort den Nachmittag gestalten. Das wäre ehrenamtlich gar nicht leistbar. Nein, ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass jede weiterführende Schule einen Partnerverein hat und die Kinder dorthin zum Ensemblespiel gehen. Nur dann werden auch nach der Schulzeit einige von ihnen weitermachen und im Orchester spielen.
Öffnen Streamingdienste wie Spotify oder Plattformen wie YouTube nicht auch alle Tore – sogar für den klassischen Musikgenuss?
Silke Schneider: Sicher ist es heute wahnsinnig einfach, jede Art von Musik jederzeit zu konsumieren. Ich sehe da aber weniger eine Gefahr für die Orchester. Ein Live-Konzert ist immer mehr als „nur“ Musik. Vorfreude, vielleicht wochenlang, soziales Event, sehen und gesehen werden, das sind die Dinge, weshalb man ein Konzert besucht. Und da ist es völlig egal, ob wir von der Semper-Oper reden, dem Wacken-Festival oder Live im Hof. Streaming ist aus urheberrechtlicher Sicht ein Problem, weil die Künstler oft nicht angemessen am Profit beteiligt werden. Für ein regionales Laienorchester sehe ich da aber wenig Gefahren.
Zum Abschluss: Wie sehen die Zukunftspläne ihres eigenen Vereins in der Musikgemeinde aus?
Silke Schneider: Im Moment fahren wir noch „auf Sicht“, d.h. wir versuchen, gesund und spielfreudig durch die Pandemie zu kommen. Wenn irgend möglich, wird es ein Frühjahrskonzert geben, aber das ist im Wortsinne noch Zukunftsmusik. In diesen Wochen hatten und haben wir ein paar kleinere Advents-Auftritte. Wir haben zum Beispiel den St.-Martinsumzug der Kirchengemeinden begleitet. Am letzten Adventswochenende wollen wir samstagsnachmittags auf dem Georg-Mischlich-Platz und sonntags am Altersheim auftreten. Beides übrigens auf unsere eigene Initiative hin und ohne „Gegenleistung“. Wir wollen ein bisschen Freude verbreiten in diesem zweiten Corona-Winter. Und zwar mit Musik.