Sachverwalter mit Qualitätsanspruch

Von Rainer Beutel.

Dr. Johann Siegl (69) ist seit der Kommunalwahl im März Gemeindevertretervorsteher in Nauheim und somit Erster Bürger der Gemeinde. Der Christdemokrat ist Nachfolger von Karl Norbert Merz (SPD und WIR-Kolumnist) und darf getrost als Nicht-Politiker bezeichnet werden, obwohl er sich schon Jahrzehnte in der Kommunalpolitik engagiert. WIR-Redakteur Rainer Beutel hat von ihm erfahren, dass die turbulenten Nauheimer Verhältnisse vergangener Tage gar nicht so unnormal waren.

Herr Siegl, wofür steht Ihr Doktortitel?

Dr. Johann Siegl: Eine selten gestellte Frage, weil für viele der Doktortitel außerhalb des ärztlichen Bereiches ein undefiniertes Anhängsel ist. Ich habe den Titel und damit zugleich gesetzlichen Namensbestandteil im Ingenieurswesen erworben. Gesetzlich bedeutet er u.a. eine unmittelbare Aberkennung bei strafrechtlichen Verfehlungen. Die vollständige Bezeichnung ist Dr.-Ing. im Fachgebiet Werkstoffwissenschaften, Schwerpunkt Polymerphysik. Ziel jeder Promotion ist es, dass neue Erkenntnisse gewonnen werden. Im Ingenieurbereich ist der experimentelle Nachweis üblich. Gearbeitet habe ich zu der Zeit im Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft, das Promotionsverfahren wurde an der TU Berlin durchgeführt.

Sie sind also alles andere als ein Berufspolitiker, gleichwohl engagieren Sie sich schon sehr lange in der Kommunalpolitik. Woher kommt das politische Interesse?

Dr. Johann Siegl: Das soziale Engagement kommt aus dem Elternhaus. Im dörflichen Umfeld ist es üblich, selbstlos dem Nachbarn mit Rat und Tat zur Verfügung zu stehen. So ist es für mich selbstverständlich, andere zu unterstützen. Zunächst als Klassensprecher, später als Semestersprecher, im Asta und im Studentenparlament. In Nauheim angekommen war es eine Art Verpflichtung, dem Ort und seinen Bürgern durch kommunales Engagement etwas zurückzugeben. Mein Ziel ist dabei der Erhalt und die Pflege der Vielfalt in Sprache, Musik, Kultur und in der Natur.

Sie haben in verschiedenen Funktionen Ausschüsse der Nauheimer Gemeindevertretung geleitet, nun sind Sie Gemeindevertretervorsteher. Was ist jetzt anders für Sie, sicherlich nicht nur die Größe des Gremiums?

Dr. Johann Siegl: Reizvoll ist die gänzlich unterschiedliche Aufgabenstellung in einem Entscheidungsprozess bei gleicher Wertigkeit. Die Gemeindevertretung bestimmt die Geschicke der Kommune durch langfristig verbindliche Entscheidungen. (Bebauungspläne, Infrastrukturinvestitionen etc.) Die Ausschüsse hingegen haben die alleinige Kompetenz einer sach- und themenbezogenen Bewertung und Beratung in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet. Damit sind die Ausschüsse die qualifizierten Spezialisten, die unabdingbar benötigt werden, um Themen intensiv zu beleuchten. Die Gemeindevertretung ist strategisch ausgerichtet, welche dem Gemeindevorstand als ausführendem Organ Aufgaben zuweist und grundsätzliche Entscheidungen trifft. In beiden Fällen geht Qualität vor Geschwindigkeit.

In den vergangenen Jahren war Ihr Stil, ein politisches Gremium zu leiten, für Beobachter von mindestens zwei Faktoren geprägt. Sie wirkten selbst in hitzigen Debatten gelassen und waren stets um Ausgleich bemüht. Sind das die für Sie maßgeblichen Aspekte, die berühmt-berüchtigten Nauheimer Verhältnisse vergangener Tage gar nicht erst aufkommen zu lassen?

Dr. Johann Siegl: Die sogenannten „Nauheimer Verhältnisse“ findet man überall dort wo politische Standpunkte aufeinanderprallen, ohne dass im Rahmen einer Diskussion die Sachzusammenhänge erörtert werden. Wer keine Argumente hat, beginnt meist mit einem personenbezogenen Grabenkampf. Mit dem steten Verweis auf das gemeinsame Ziel und deren Randbedingungen sind emotionale Streitigkeiten weitgehend vermeidbar. Es darf nicht vergessen werden, dass die Gemeindevertreter nur Sachverwalter auf Zeit sind. Sie verwalten die Steuergelder der Bürger und sollten sich immer bewusst sein dieses im Sinne der Gemeinschaft, nicht aber für Einzelinteressen oder Gruppen, auszugeben. Wer konstruktiv an Themen arbeitet hat meist keine Zeit zu persönlicher Konfrontation und pauschalpolitischem Schlagabtausch.

In einem Vorabkontakt deuteten Sie an, dass Sie Harmonie der Uniformität vorziehen? Was genau meinen Sie?

Dr. Johann Siegl: Uniformität ist, wenn alle das Gleiche tun, z. B. in einem Orchester alle Musiker die erste Stimme spielen – das ist monoton. Harmonie hingegen ist es, wenn jedes Orchesterregister seine eigene Stimme spielt, welches zusammen als Gesamtwerk polyphon also mehrstimmig erklingt. So wünsche ich mir auch die Gemeindevertretung mit vielen unterschiedlichen Ideen, Personen, Parteien, Charakteren und Lebenserfahrungen. Um gemeinsam und konstruktiv in einer offenen Diskussion die Zukunft zu gestalten und dabei Unterschiedlichkeiten zu akzeptieren.

Ebenso plädieren Sie für „Vielfalt statt Einfalt“. Wie wollen Sie Vielfalt erreichen? Für Beobachter sieht es oft so aus, als gingen die Fraktionen mit vorgefertigten Meinungen in eine Sitzung.

Dr. Johann Siegl: Herr Beutel, das haben Sie sehr gut beobachtet. Diese vorgefertigten Meinungen sind der Tod jeder Demokratie. Es ist die Basis für hohes Beharrungsverhalten und fehlenden Gedankenaustausch. Mehr Vielfalt durch eine offene Diskussionskultur und damit eine Flexibilität in der Meinungsgestaltung ist gewünscht. Wer stur auf den Ergebnissen seiner jeweils vorausgegangenen Fraktionssitzung beharrt und damit eine vorgefertigte Meinung vertritt, hat keine Chance, auf zusätzliche Erkenntnisse flexibel zu reagieren. Die freie Diskussion kann so nicht stattfinden, auch können keine Gedanken im Dialog weiterentwickelt werden. Einander zuhören, eine Idee aufnehmen und diese weiterentwickeln bringt Gestaltungsfreiheit. Ich hoffe und wünsche, dass sich diese Erkenntnis allmählich durchsetzt. Die Regelung der Hessischen Gemeindeordnung ist eindeutig, hiernach ist jeder nur seinem Gewissen verantwortlich.

Sie nehmen sich gerne Zeit, Hintergründe zu erläutern – warum?

Dr. Johann Siegl: Wenn ich feststelle, dass Lösungen propagiert werden, noch bevor die Fragestellung ausgearbeitet wurde, ist dies ein Warnsignal, das nur durch Nachfragen nach mehr Hintergrundinformation aufzubrechen ist. Allerdings fühlen sich dabei einige ertappt, dass sie etwas übersehen haben, andere fühlen sich bevormundet. Erläuterungen zu geben ist immer ein schwieriger Spagat. Vorwürfe sind damit programmiert, weil eine gegebene Hintergrundinformation gerne als „eigene Meinung“ oder „Bevormundung“ tituliert wird. Mehr Kommunikation und weniger Konfrontation ist friedensstiftend, verbessert die Stimmung, Qualität und das Ergebnis.

Um den Kreis zu schließen: Wie könnte Ihr völlig politikfremder, beruflicher Hintergrund dazu beitragen, in Stil, Umgang und vor allem Erkenntnisfortschritt dem Ortsparlament neue Impulse zu geben?

Dr. Johann Siegl: In Ergänzung zur naturwissenschaftlichen Ausbildung war mein beruflicher Hintergrund technisch wirtschaftlich geprägt. Als Marketingleiter war es meine Aufgabe Information, Wissen und Emotion zu vermitteln, um Entscheidungen vorzubereiten. In meiner letzten Funktion als Forschungscontroller musste ich unterschiedlichste Interessen zusammenbringen. Der Forschungsaufwand musste den zu erwarteten Erträgen gegenübergestellt werden, ein sehr heikles Thema für Prognosen. Das erfordert Fingerspitzengefühl und eine klare differenzierte Rhetorik. All das wird auch im Ortsparlament benötigt. Somit sehe ich keine neue Vorgehensweise, lediglich das Thema hat sich verändert. Durch Anregungen versuche ich, Impulse bei allen Gemeindevertretern zu setzen. Mein technisch-wirtschaftlicher Hintergrund sowie die langjährige Berufserfahrung erlauben mir, Sachzusammenhänge zu erkennen (z. B. verdeckte Subventionen) und wenn gewünscht, auch zu erklären. Als Erster Bürger der Gemeinde fühle ich mich dem Gemeinwohl verpflichtet. Wenn es gelingt, dass diese Denkweise des Gemeinwohls von den Gemeindevertretern so akzeptiert und übernommen wird, hätte ich einen großen Erfolg erzielt.

Welche Aufgaben sehen Sie für Kommunalpolitiker in den nächsten Jahren?

Dr. Johann Siegl: Ein schlauer Mensch sagte einmal: „Prognosen sind besonders schwierig, weil sie die Zukunft betreffen.“ Dennoch hilft die Beobachtung von schleichenden Veränderungen die Themenkreise zu identifizieren. Die Pflege der eigenen Identität (Kultur, Sprache, Religion, Gesellschaftssystem) sind die Grundpfeiler unserer Werte. Durch Covid-19 wurden Veränderungen beschleunigt. Der distanzierte zwischenmenschliche Kontakt, ein erlahmendes Vereinswesen, auch das Corona bedingte reduzierte Schulangebot verändert Denkweisen. Welche Auswirkungen die stark gestiegene Staatsverschuldung auf die Zukunft hat muss sich zeigen. Sofern die kommunalen Einnahmen und staatlichen Zuweisungen zurückgehen, wird zunehmend von den Gemeindevertretern Fingerspitzengefühl, Sachverstand und Einfühlungsvermögen benötigt. Gemeinschaftliche Anträge unterschiedlicher Parteien wären das sichtbare Zeichen eines gemeinsamen Lösungswillens. Ich danke für das Gespräch.

Zur Person: Johann Siegl, geboren 1952 im Ebrach, Kreis Wasserburg am Inn in Oberbayern. Mittlere Reife, Industriekaufmann über den zweiten Bildungsweg zur Fachhochschule Rosenheim, danach Studium und Promotion an der technischen Universität Berlin. Berufseinstieg als Leiter der Qualitätskontrolle bei der Ford AG in Köln und Berlin, später Produktmanager und Marketingleiter bei der Röhm GmbH, zuletzt bei der Evonik AG als Forschungscontroller im Projektentwicklungszentrum des Konzerns in Hanau. Mitglied der CDU seit 2000, Gemeindevertreter seit 2001, Schiedsmann seit 2012. Hobbies: Astrophysik, Flora und Fauna, Musik sowie wissenschaftliche Literatur.

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