Über eine Volkskrankheit

Von Rainer Beutel.

„Je früher man sich ein Problem bewusst macht oder eingesteht und Beratung, Hilfe aufsucht, desto höher ist auch die Chance, für Wege aus der Erkrankung oder mit der Erkrankung gut zu leben. Es geht um Aufklärung, Prävention, Selbsthilfe, unabhängige Beratung.“ Das betont der Vorstandsvorsitzende der Stiftung für Seelische Gesundheit (SSG), die psychisch kranken Menschen und ihren Angehörigen hilft, die schwierige Lebenssituation zu bewältigen.

Herr Wilker, ganz allgemein: Um wen oder was kümmert sich die Stiftung für Seelische Gesundheit?

Michael Wilker: Die SSG fördert und entwickelt seit 2001 Projekte und Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation psychisch kranker Menschen im Kreis Groß-Gerau und finanziert auch Einzelfallhilfen. Mit dem regionalen „Bündnis gegen Depression“ und dem Schulprojekt „Verrückt? Na und!“ unterstützen wir Aktionen, Veranstaltungen und Kampagnen, die über Depressionen und weitere psychische Erkrankungen informieren und aufklären. Wir leisten damit einen wichtigen Beitrag zu Prävention, Enttabuisierung und Verständnis. Mit dem von uns initiierten Projekt „Psycholotsen“ fördern und begleiten wir den wichtigen Bereich der Selbsthilfe. Und mit unserer „EUTB Kreis Groß-Gerau“ haben wir eine wichtige, einfach zugängliche, unabhängige und kostenlose Beratungsstelle, die nicht nur Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, sondern auch diejenigen mit geistigen, körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen dabei unterstützt, die richtigen Hilfen und ihre Finanzierungsformen zu finden. Alle Projekte richten sich auch an Angehörige. 

Wie viele Menschen im Kreis Groß-Gerau sind als psychisch krank diagnostiziert? 

Michael Wilker: Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie liegt im Laufe eines Jahres die Häufigkeit, wonach Menschen an einer psychischen Störung erkranken, bei 27,8 Prozent. Vorherrschend sind Angsterkrankungen, Depressionen, Suchterkrankungen. Das wären im Kreis Groß-Gerau etwa 75.000 betroffene Menschen. Psychosen liegen bei etwa einem Prozent, was immerhin 2.800 Betroffene sind. Griffig formuliert heißt das: Psychische Erkrankungen sind eine Volkskrankheit wie z.B. Bluthochdruck.

Wie hoch mag die Dunkelziffer der Menschen sein, die betroffen sind, aber bislang weder ärztliche, medizinische oder beratende Hilfe beanspruchen? Und warum?

Michael Wilker: Erheblich. Eine psychische Erkrankung wird nicht als solche erkannt, Hilfen werden nicht gesucht oder angenommen aus Scham und Angst vor Stigmatisierung, geeignete Hilfsangebote werden nicht gefunden. Anhand der Resonanz zu unseren Angeboten lassen sich Besonderheiten erkennen. So ist z.B. das Interesse an Informationsveranstaltungen zum Thema psychische Erkrankung, insbesondere zu Depressionen, in den letzten Jahren gewachsen, was die Anzahl der Teilnehmer bei Veranstaltungen des Bündnis gegen Depression oder auch der Anfragen in unserer Beratungsstelle belegen.

Wie können sie der Schwellenangst entgegenwirken?

Michael Wilker: Den Zugang zur Inanspruchnahme von Informationen und Hilfen so einfach wie möglich zu machen, ist eine ganz wichtige Aufgabe. Die Vorbehalte von Betroffenen gegen das psychiatrische Angebot, gegen Behandlungsformen, vor allem mit Psychopharmaka, ist teilweise sehr groß. Hier kann der Austausch mit erfahrenen Betroffenen (Psycholotsen) helfen, aber auch eine vorgeschaltete Beratung, die einem differenzierte Informationen und mögliche Wege zu einer passenden Hilfe weisen kann. Die erste Hürde für Betroffene wie Angehörige ist ja häufig, überhaupt darüber zu reden, dass etwas anders oder aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es ist natürlich immer auch eine Frage des Timings. 

Welche Tendenzen erkennen sie?

Michael Wilker: Wir sehen einen wachsenden Beratungsbedarf bei Menschen mit Beeinträchtigung sowie ihren Angehörigen in Bezug auf das, was an Unterstützung gewünscht und benötigt wird, wie es organisiert und finanziert werden kann. In der Breite der Möglichkeiten und Angebote den Durchblick zu haben, fällt selbst den Profis nicht immer leicht. Wir nehmen auch wahr, dass die Anzahl der Ratsuchenden in unserer Beratungsstelle in der Mehrzahl Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sind, die auf der Suche nach geeigneten beruflichen und medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen oder psychosozialen Angeboten sind, sich häufig Unterstützung bei laufenden Antragsverfahren holen. Hinzu kommen auch Menschen mit Fluchterfahrung, aktuell Menschen aus der Ukraine mit schwerbehinderten Angehörigen.

Die SSG wird tätig, wenn es Lücken in der Unterstützung oder keine sozialrechtlichen Leistungen gibt. Um was geht es dabei genau?

Michael Wilker: Wir ergänzen mit unserer Arbeit die bestehenden, in der Regel auf der Grundlage der Sozialgesetzbücher entwickelten Angebote in der sozial- bzw. gemeindepsychiatrischen Landschaft. Dabei suchen wir unter Berücksichtigung der eigenen finanziellen und personellen Ressourcen sinnvolle Themen und Bereiche aus, um uns dort zu engagieren. Es muss betont werden, dass wir eine sehr gute und differenzierte Versorgungs- und Unterstützungslandschaft im Kreis haben. Oft besteht die Hürde darin, den Unterstützungsbedarf und die benötigte Hilfe zueinander zu bringen und dabei auch nicht nur die professionelle Hilfe im Blick zu haben. Vieles wird ja von Familien oder auch Freunden oder Nachbarn getragen, die man bei der Unterstützung nicht vergessen darf. Und die Hilfe von Betroffenen untereinander ist ja ein ganz wichtiger Bereich. 

Sind Erfolge messbar und wenn ja, wie sehen diese aus?

Michael Wilker: Eine erhöhte Teilnahme an Veranstaltungen des Bündnis oder von Schulklassen, die am Schulprojekt beteiligt sind oder eine wachsende Anzahl Ratsuchender in unser EUTB bedeutet noch nicht, dass die Anzahl von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Beeinträchtigungen wächst. Ich würde eher davon ausgehen, dass durch die Projekte die Interessen und die Akzeptanz gefördert werden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und, wenn man betroffen ist, eher Hilfe zu suchen. Das wiederum kann Krankheitsverläufe positiver beeinflussen. Gerade bei jüngeren Menschen, die insbesondere durch die Pandemie vielleicht die am stärksten von psychischen Störungen betroffene Gruppe ist, können Projekte wie das Schulprojekt mit Aufklärung einiges bewirken. 

Bitte noch einen Rat für Betroffene: Was tun, wenn die Hemmungen, unterstützende Hilfe aufzusuchen, so groß sind, dass Menschen sich scheuen, zu Ihnen oder entsprechenden Institutionen Kontakt aufzunehmen? 

Michael Wilker: Niedrigschwelligkeit ist das Zauberwort. Der Zugang zu Informationen und Angeboten muss in den Fällen so sein, dass sie Vertrauen bilden können und keine Erwartungen auf Gegenleistung an den Ratsuchenden gestellt werden. Man kann sich zum Beispiel per Mail an die Psycholotsen wenden oder die Beratungsstelle anrufen, im Bedarfsfall auch anonym. In akuten Krisen gibt es aber auch die Telefonseelsorge und in sehr ernsthaften Situationen natürlich die Hausärzte, den sozialpsychiatrischen Dienst, die niedergelassenen Psychiater, die Ambulanzen und Kliniken.

Können Außenstehende Ihre Stiftung unterstützen?

Michael Wilker: Ja, für alle Projekte benötigen wir Mittel, die wir über Spenden erhalten. Unsere  Teilhabeberatungsstelle mit zwei fest angestellten Mitarbeitern wurde bislang nur mit maximal 95 Prozent vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanziert. Eine mindestens fünfprozentige Eigenbeteiligung ist eine immense Herausforderung für unsere kleine Stiftung, und wir sind froh über viele regionale Partner und Freunde, die uns finanziell unterstützen. 

Mehr Infos (inklusive Spendenkonten) unter www.ssg-kreisgrossgerau.de

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