Inklusion durch Bildung

Von Rainer Beutel.

Die Eingliederung von Menschen mit Behinderung gehört zu den wichtigen Aufgaben der Werkstätten für Behinderte Rhein-Main in Königstädten. Ein erfolgreiches Beispiel für eine betriebliche Integration ist in Nauheim geglückt. Jolanda Wilker, Mitglied der WfB-Geschäftsführung, beschreibt im Interview mit WIR-Redakteur Rainer Beutel, wie es zu solchen Kooperationen kommt.

Frau Wilker, die Werkstätten für Behinderte Rhein-Main engagieren sich bei der Eingliederung von Menschen mit Behinderung seit mehreren Jahren erfolgreich. Erklären Sie unseren Lesern bitte, welche Ziele die WfB damit verfolgen?

Jolanda Wilker: Unser oberstes Ziel ist es, Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. In unserer Gesellschaft definieren wir uns zu einem großen Teil über unsere Arbeit. Deshalb ist es uns als Werkstatt-Träger, aber auch mir ganz persönlich, ein großes Anliegen, alle Menschen nach ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten so zu fördern, dass sie einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen können, die sie ausfüllt und zufrieden macht. Für viele unserer Beschäftigten ist das ein Platz in einer unserer Werkstätten. Wir sind jedoch auch sehr erfolgreich in der Vermittlung auf betriebsintegrierte Beschäftigungsplätze. Von unseren rund 500 Werkstattbeschäftigten sind aktuell gut 60 Personen in Praktika oder an Arbeitsplätzen bei Kommunen oder Firmen im gesamten Kreisgebiet tätig.

Inwiefern werden von den WfB für den Integrationsprozess die persönlichen und fachlichen Voraussetzungen geschaffen?

Jolanda Wilker: Das A und O erfolgreicher Integration und Inklusion sehe ich in guter Bildung und Qualifizierung. Meine Mitarbeiter aus dem Berufsbildungsbereich unserer Werkstätten und aus unserem Fachbereich berufliche Integration forcieren das mit allen Kräften. Das ist ganz entscheidend für die gesellschaftliche Teilhabe – auch und gerade für Menschen mit Behinderung. In Zusammenarbeit mit der IHK Darmstadt haben wir deshalb ein optimales Qualifizierung-System entwickelt. Auch mit der Rüsselsheimer Berufsschule, der Werner-Heisenberg-Schule, arbeiten wir eng zusammen. So etwas ist in Deutschland noch immer keine Selbstverständlichkeit. Ich möchte mich bei den Verantwortlichen dort für die Kooperation zu bedanken.

Was können Kommunen und Firmen unternehmen, wenn diese den Eingliederungsprozess unterstützen, fördern und bestenfalls daran teilhaben wollen?

Jolanda Wilker: Damit mehr Werkstatt-Beschäftigte den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen, sind meine Mitarbeiter und ich auf Partner in Kommunen und in der freien Wirtschaft angewiesen, die offen sind und bereit, sich auf einen Menschen mit Behinderung einzulassen. Mehr braucht es zunächst nicht. Gemeinsam mit den Betrieben schauen meine Mitarbeiter nach geeigneten Arbeitsplätzen und führen intern Gespräche mit Werkstatt-Beschäftigten, um auszuloten, wer sich für die Tätigkeit interessiert und in Frage kommt. Hier reden wir noch lange nicht von einem Arbeitsplatz des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Schlüsselworte sind Praktika oder betriebsintegrierte Beschäftigungsplätze, die den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern. Kommt es dann zu einer Kooperation, betreuen wir den Menschen mit Behinderung weiter. Wir unterstützen jedoch auch den Arbeitgeber und sind Ansprechpartner für die Kollegen in den Betrieben.

Und das funktioniert reibungslos?

Jolanda Wilker: Aus unserer langjährigen Erfahrung wissen wir, dass es einige Übung braucht, sich auf einen Menschen mit Behinderung einzulassen. Hier lassen wir die Betriebe nicht alleine. Wenn alles gut läuft, übernehmen Betriebe auch hin und wieder den Menschen mit Behinderung fest in ihre Teams. Die feste Übernahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ist die Kür und kommt leider äußerst selten vor. Ich rede hier von einer oder zwei erfolgreichen Vermittlungen im Jahr.

Es gibt ein aktuelles Beispiel in Nauheim. Schildern Sie bitte, in welchem Bereich Sie und die Gemeinde Nauheim kooperieren und wie dies gelungen ist?

Jolanda Wilker: Das stimmt. Und diese Vermittlung macht uns alle gerade auch sehr glücklich. Durch den Erfolg der Kooperation ermutigt, hat die Gemeinde Nauheim sich dazu entschlossen, für zwei Menschen mit Handicap feste Arbeitsplätze in ihren Kindertagesstätten zu schaffen. Bürgermeister Jan Fischer setzt hier ein zukunftsweisendes Zeichen für Inklusion. Wir kooperieren seit 2016 mit der Gemeinde Nauheim. Die beiden jungen Frauen, die seit diesem August fest in zwei der Gemeinde-Kitas angestellt sind, arbeiten dort seit 2018. Zunächst hatten wir die Stellen mit anderen Werkstatt-Beschäftigten besetzt, das hat jedoch bei einer Stelle nicht gleich funktioniert. Wichtig ist, dass alle Paramater stimmen und das Arbeitgeber und Beschäftigter zufrieden und glücklich mit dem Arbeitsplatz sind. Es muss für beide Seiten passen.

Steigen die Beschäftigten sofort ins Berufsleben ein?

Jolanda Wilker: Nein, wir beginnen die Zusammenarbeit in der Regel mit einem Praktikum. Das hat unter anderem das Ziel, dass sich die Protagonisten gut kennlernen. Denn neben der Arbeit ist es wichtig, dass die menschliche Ebene stimmt. Elementar war, dass meine Mitarbeiter den Prozess während der gesamten Zeit gut begleitet haben und da waren, wenn es mal Fragen oder Probleme gab. Das ist ein Grundsatz unserer Arbeit.

Eine solche Zusammenarbeit gilt als Win-Win-Situation. Wer profitiert dabei wie und in welcher Weise?

Jolanda Wilker: Zunächst leistet diese Form der Zusammenarbeit einen enorm wichtigen Beitrag zur modernen Behindertenpolitik und Umsetzung von UN-Konventionen. Mindestens genauso wichtig ist die ganz menschliche Komponente: Einstellung und Integration von behinderten Menschen im Unternehmen wirken sich positiv auf die gesamte Belegschaft aus. Ein sozial engagiertes und verantwortungsbewusstes Unternehmen stärkt so das Vertrauen der Mitarbeiter und fördert deren soziale Kompetenz. Durch unsere Vermittlung bekommt der Betrieb einen hochmotivierten Mitarbeiter, der dankbar für die große Chance ist. Für beide Seiten ist so die Einstellung von Menschen mit Behinderung ein Gewinn.

Und die WfB?

Jolanda Wilker: Für uns steht natürlich der Gewinn an Lebensqualität des Menschen mit Handicap ganz oben an. Sein Selbstwertgefühl und seine Selbstwirksamkeit erfahren einen enormen Schub nach vorne, wenn er gleichberechtigt am Arbeitsleben teilnehmen kann. Hier möchte ich allerdings daran erinnern, was ich eingangs sagte: Es muss passen. Für viele kann der Platz in der Werkstatt auch ein sehr guter Weg sein. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich bei der Arbeit ständig überfordert zu fühlen.
Was passiert unmittelbar nach der betrieblichen Integration? Bricht dann der Kontakt zu den WfB ab?
Jolanda Wilker: Offiziell sind wir als Einrichtung dann raus. Doch menschlich ist das natürlich nicht so nach Lehrbuch umsetzbar. Wenn durch zum Teil jahrelange Betreuung und Unterstützung enge Verbindungen gewachsen sind, dann stehen wir selbstverständlich auch weiter beratend zur Seite – auch wenn es dafür keine Vergütung mehr gibt. Und das betrifft beide Seiten; den Arbeitnehmer, den wir vermittelt haben genauso wie den Arbeitgeber und sein Team. Außerdem ist das für uns eine Maßnahme zur Sicherung des Arbeitsverhältnisses und zur weiteren Kontaktpflege mit dem Betrieb.

Auf welchen Berufsfeldern ist die betriebliche Integration bereits gelungen und welche weiteren Bereiche könnten hinzukommen?

Jolanda Wilker: Das Spektrum ist sehr vielseitig und weit gefächert. Es reicht von Bauhöfen, Kindertagesstätten, Logistikunternehmen, Hundesalons, Autohäusern und Schulkantinen bis zum Rüsselsheimer Stadt- und Industriemuseum und dem GPR-Klinikum. Unsere Beschäftigten sind hier unter anderem als Servicehelfer, in der Lagerlogistik, Hauswirtschaft, Reinigung, Einzelhandel, Haustechnik und in der Tierbetreuung tätig.

Wie ist Ihre Arbeit im Kreis Groß-Gerau einzuordnen?

Jolanda Wilker: Alle Werkstätten für behinderte Menschen in Hessen haben mit dem Landeswohlfahrtsverband Ziele zur betrieblichen Integration vereinbart, um den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Im Landesvergleich sind wir hier überaus erfolgreich. Im Vergleich aller Landkreise belegen wir mit unseren Bemühungen um berufliche Integration seit einigen Jahren regelmäßig Platz zwei. Was die Einordnung im Kreis Groß-Gerau angeht, kann ich eine sehr kurze Antwort geben: Wir sind die einzige Einrichtung im gesamten Landkreis, die Menschen mit geistiger Behinderung auf diesem Gebiet unterstützt. Ohne unser Engagement gäbe es keine betriebsintegrierten Beschäftigungsplätze. Ein Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wird ausschließlich durch mein Team ermöglicht.

Welche Rolle nehmen Sie persönlich in diesen Prozessen ein und wer bei den WfB unterstützt Sie?

Jolanda Wilker: Als Mitglied der Geschäftsführung der WfB Rhein-Main und als Bereichsleiterin für Bildung und Arbeit kann ich nur noch zu einem kleinen Teil selbst operativ tätig sein. Gerade dieser Teil meiner zahlreichen Arbeitsfelder liegt mir jedoch besonders am Herzen. Ich bin seit genau 25 Jahren für die WfB Rhein-Main tätig und habe vor vielen Jahren begonnen, die betriebsintegrierte Beschäftigung mit aufzubauen. Heute besteht mein Team in den Bereichen Bildung und berufliche Integration aus vier Bildungsbegleitern, zwei Fachkräften für berufliche Integration sowie aus Honorarkräften, die wir für Fortbildungen einkaufen und studentischen Praktikanten, die uns wertvoll unterstützen. Neben der Leitung dieser Teams, sehe ich es als meine Aufgabe, unser Netzwerk zu Betrieben im Landkreis kontinuierlich auszubauen. Ich hoffe, dass auch dieses Interview hierzu etwas beiträgt, denn wir sind ganz wesentlich auf die Offenheit und Bereitschaft von Betrieben aus der Region angewiesen, mit uns zusammenzuarbeiten und so Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben.

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