Lotsen für Menschen mit Handicap

Von Rainer Beutel.

Mit dem Bundesteilhabegesetzes (BTHG) verlangt der Gesetzgeber seit 2018 ein niedrigschwellendes Beratungsangebot für Menschen mit Behinderung. In jeder Region bzw. in jedem Kreis soll es „Eine für alle“ geben. Das heißt, eine Beratungsstelle kann für alle Fragen bezüglich der Sozialgesetzgebung und Behindertenhilfe genutzt werden. Im Kreis Groß-Gerau ist das in Rüsselsheim und Goddelau möglich. WIR-Redakteur Rainer Beutel hat sich bei Mitarbeiter und Diplom-Verwaltungswirt Tony Schröder erkundigt, welche Aufgaben und Ziele die seit fünf Jahren für den Kreis Groß-Gerau tätige „Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung“ (EUTB) erfüllt.

Herr Schröder, was bedeutet EUTB konkret? Was heißt Teilhabe, und warum nennt sich das „ergänzend“ und „unabhängig“?

Tony Schröder: Es geht um die Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft. Dies kann z. B. die Teilhabe an Bildung, Arbeit oder Freizeit sein. Das BTHG hat die gleichberechtigte Teilhabe von allen Menschen zum Ziel. Ergänzend ist die EUTB, weil jeder REHA-Träger (z. B. Agentur für Arbeit, Jobcenter) ebenfalls Beratungsangebote hat und wir ergänzend zu diesen Beratungsstellen fungieren. Unabhängig sind wir, weil eine EUTB an keinen der anderen REHA-Träger angebunden ist und wir deswegen alle REHA-Leistungen aller Träger im Blick haben sollen.

Für welchen Personenkreis ist die EUTB zuständig?

Tony Schröder: Wir sind Ansprechpartner für Menschen mit Behinderung (geistig, seelisch/psychisch, körperlich, suchtkrank) oder jene, die von einer Behinderung bedroht sind. Es ist also keine Voraussetzung, einen Schwerbehindertenausweis zu haben, um unser Angebot zu nutzen.

Welche Menschen in welchen Lebenssituationen wenden sich an die EUTB?

Tony Schröder: Neben dem oben genannten Personenkreis haben wir auch die Angehörigen, Eltern, Betreuer, Leistungserbringer und Kostenträger als Ratsuchende. Beispielhaft würde ich als Lebenssituation den Übergang von Schule in Ausbildung/Beruf und den von der Arbeit in Rente nennen. Hier sind Dinge zu beachten oder Anträge zu stellen, wo wir unterstützen können. Außerdem kommen auch Personen zu uns, die aufgrund ihrer Krankheit oder Behinderung Hilfe brauchen, oder auch Angehörige die sich in Überforderungssituationen befinden.

Welche Aufgaben hatten Sie seit der Gründung vor fünf Jahren vorrangig zu meistern?

Tony Schröder: Vor fünf Jahren galt es erstmal, die EUTB als solches bekannt zu machen, darauf hinzuweisen, dass es eine solche Beratungsstelle jetzt gibt. Hierzu waren intensive Netzwerkarbeit, Zeitungsartikel und Termine mit den entsprechenden Stellen im Kreis Groß-Gerau nötig. 

Wer fördert die Arbeit der EUTB?

Tony Schröder: In den ersten vier Jahren wurden unsere Beratungsstellen zu 95 Prozent vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert, da es als Projektphase erst erprobt werden sollte. Die Stiftung für Seelische Gesundheit (SSG) als Träger der EUTB musste 5 Prozent der Kosten durch Spendengelder von Unternehmen, Privatpersonen sowie anderen Institutionen selbst aufbringen. Seit einem Jahr gibt es eine hundertprozentige Finanzierung durch das BMAS. Die SSG fördert neben der EUTB auch andere Einrichtungen und Projekte, wie z. B. die Psycholotsen oder das Bündnis gegen Depression und wird dabei von einigen bereits langjährigen Spendern gefördert.

Wie ist die bisherige Resonanz auf das Beratungsangebot und wie sehen Ihre Perspektiven für die nächsten fünf Jahre aus? Etwa eine weitere Beratungsstelle?

Tony Schröder: Die Anzahl der Ratsuchenden bzw. der Beratungsgespräche ist mittlerweile im vierstelligen Bereich angelangt. Die Rückmeldungen für uns sind, mit zwei Ausnahmen, durchweg positiv. Die Vollfinanzierung ist mittlerweile vom BMAS bis zum Jahr 2029 gesichert. Eine weitere Beratungsmöglichkeit haben wir für Menschen aus dem Süden des Kreises Groß-Gerau. Die Stadt Riedstadt hat uns ermöglicht, einen Raum im Rathaus für Termine nutzen zu dürfen. Dies wird mittlerweile auch mit steigender Tendenz in Anspruch genommen.

Was wird besonders häufig an Beratung gewünscht, und worauf führen Sie das zurück?

Tony Schröder: Die häufigsten Themen sind Probleme mit Behörden bzw. die Antragstellung dort. In Deutschland haben wir ein kompliziertes Netz an verschiedenen Zuständigkeiten, was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit für Ratsuchende führt. Bei wem ich was wo beantragen kann, ist also die häufigste Fragestellung, verbunden mit der Schwierigkeit, Anträge auszufüllen. Es gibt Anträge mit vier Seiten und welche mit bis zu 50 Seiten. Wir haben hier sowohl eine Lotsen- als auch Hilfsfunktion, damit es zu möglichst wenig Problemen führt. Wir haben auch keine Limitierung der Besuche bei uns. Es gibt durchaus Ratsuchende, die sehr viele Beratungsgespräche hier hatten und die wir bei Ihren Problemen über einen längeren Zeitraum begleitet haben.

Wie bauen Sie Schwellenängste ab, wenn jemand zu Ihnen kommt und zugibt, er oder sie braucht dringend Hilfe?

Tony Schröder: Wir haben hier einen sehr geschützten Rahmen während der Gespräche, die auch anonym durchgeführt werden können. Alle Gesprächsinhalte unterliegen der Schweigepflicht unsererseits. An das BMAS melden wir lediglich die Anzahl der durchgeführten Beratungen, nicht die spezifischen Inhalte. Außerdem machen wir Mitarbeiter jährlich Schulungen, nicht nur was den sozialrechtlichen Teil angeht, sondern auch Schulungen zu Krankheitsbildern oder behinderungsbedingten Aspekten. Wir versuchen eine angenehme Gesprächsatmosphäre herzustellen, nicht zuletzt neben einem hellen, freundlichen Raum auch durch das Angebot von Getränken und Süßigkeiten.

Inwiefern ist die EUTB in das Netzwerk anderer Beratungsstellen im Kreis Groß-Gerau integriert?

Tony Schröder: Nach über fünf Jahren Netzwerkarbeit sehr gut. Wir sind in allen eingliederungshilferelevanten Arbeitsgruppen im Kreis Groß-Gerau vertreten, d. h. beim Kreis Groß-Gerau als auch bei der Stadt Rüsselsheim. Wir haben an verschiedenen Elternabenden (Schule oder Werkstatt für Behinderte) teilgenommen und selbst auch Schulungen angeboten. Mit den anderen Beratungsstellen von der Agentur für Arbeit und Jobcenter stehen wir ebenfalls in einem Austausch.

Wie ist die Reichweite Ihrer Beratung im Gerauer Land, und wie werden Menschen unterstützt, die nicht in die Beratungsstelle kommen können?

Tony Schröder: Es gibt Ratsuchende aus dem Kreis Groß-Gerau und auch aus benachbarten Landkreisen, die das dortige Angebot nicht nutzen wollen oder örtlich näher an uns liegen. Zeitlich versuchen wir jeden Wunschtermin zu ermöglichen und haben deshalb auch schon Termine am Wochenende wahrgenommen. Wenn erforderlich oder gewünscht, machen wir auch gerne Hausbesuche und ermöglichen eine Beratung im häuslichen Umfeld. Ein Termin fand z. B. in einem Café statt.

Tony Schröder

Kontakt:
Tony Schröder, Telefon 0151-20414275, E-Mail: tony.schroeder@eutb-kreisgg.de sowie Alexander Riecher, E-Mail alexander.riecher@eutb-kreisgg.de

EUTB Kreis Groß-Gerau, Moselstraße 33, 65428 Rüsselsheim, Telefon 06142-4079241, E-Mail info@eutb-kreisgg.de

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