Junge Leute gehören in unsere Gesellschaft
Von Rainer Beutel.
Seit 25 Jahren ist Andreas Schmitt bei der Gemeinde Nauheim als Jugendpfleger tätig. Er begann in einer Zeit, als junge Menschen noch nicht übers Internet kommunizierten. Den digitalen Wandel hat er nicht nur begleitet, sondern unter pädagogischen Aspekten in sinnvolle Bahnen gelenkt. Über seine Arbeit, das örtliche Kinder- und Jugendparlament und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf seinen Tätigkeitsbereich hat sich der 54-Jährige nun mit WIR-Redakteur Rainer Beutel unterhalten.
Herr Schmitt, Sie haben reichlich berufliche Erfahrung in der Kinder- und Jugendförderung, genaugenommen seit einem Vierteljahrhundert. Wie haben sich in dieser Zeit die Schwerpunkte Ihrer sozialen Arbeit gewandelt?
Andreas Schmitt: Tatsächlich hat sich in 25 Jahren bei der Gemeinde einiges verändert. In den achtziger und neunziger lag der Schwerpunkt auf Jugendhaus, Ferienfreizeiten und Ferienspiele. Durch Internet, die sozialen und digitalen Medien hat sich auch unsere Arbeit verändert. Dadurch nimmt ein gewisser Grad an Individualisierung zu, das heißt, dass Begegnungen im sozialen Raum abnehmen. Auch wir sehen zu, wie wir da ein Stück weit entgegensteuern. Wenn wir früher im Sommer mit Kindern und Jugendlichen weggefahren sind, hatte das auch einen pädagogischen Wert. Das ging mit der Zeit verloren. Andere drängen in diese Lücke.
Was bedeutet das genau?
Andreas Schmitt: Es findet eine gewisse Kommerzialisierung statt, die als soziale Dienstleistung wahrgenommen wird. Zum Beispiel treten Jugendferienreisen an die Stelle unseres kommunalen Angebotes. Es gibt aber immer noch Angebote vom Kreis und den kirchlichen Trägern. Nauheim ist aber keine Insel. Im Rhein-Main-Gebiet gibt es eine Vielzahl attraktiver Angebote für junge Leute. Daher ist es wichtig, dass kommunale Jugendförderung über entsprechende finanziellen, materiellen und personelle Mitteln verfügt, damit die Teilnahme ermöglicht werden kann. Jede Bewegung braucht ihre Gegenbewegung. Es muss uns bewusst sein, wie wertvoll Begegnungen sind. Daher gibt es bei uns weiterhin den Jugend- und Kulturbahnhof X-Presso, Seminare, Workshops und vieles mehr.
Sie halten Partizipation für besonders wichtig, wenn Erwachsene Kinder und Jugendliche verantwortungsvoll begleiten. Wie gelingt das und welche Ziele sollten dabei angestrebt werden?
Andreas Schmitt: Wir müssen unsere Blickwinkel verändern, auf Augenhöhe gehen und die Welt der Kinder- und Jugendlichen aus ihrer Sicht betrachten. Es geht um den Kindeswillen. Kinder und Jugendliche müssen ihre Meinung äußern können. Und wir müssen ihnen dafür die Mittel geben und Zugänge ermöglichen. Das ist ein höheres Ziel, das in der UN-Kinderrechtskonvention verankert ist, die 1992 in Deutschland in Kraft trat. Ein konkretes Ziel ist ein Wahlrecht ab 16 Jahren, also: Kindern und Jugendlichen eine Stimme geben! Ein weiteres Stichwort wäre die alternde Gesellschaft. Nauheim ist von den Einwohnern her eher älter. Junge Menschen müssen ein Gegengewicht bilden können. Die Kommunalwahl bietet eine Möglichkeit, wie Politik und Entscheidungsträger die Interessen der Kinder- und Jugendlichen wahrnehmen können. Ein plakatives Beispiel dafür ist Fridays for Future. Unsere Aufgabe ist es also, jungen Menschen eine Chance zu geben, ihre Zukunft zu gestalten.
Es gibt vereinsungebundene Initiativen junger Menschen, die sich gegen ein enges Korsett wehren und aus ihrer Mitte heraus Projekte stemmen. Wie gelingt es, solche Bewegungen zu erkennen und zu fördern?
Andreas Schmitt: Wir brauchen Freiräume, mehr Raum zur Entfaltung, um Ideen und Kreativität zu fördern. Nur dort, wo wir ihnen Freiräume geben, können Jugendliche etwas gestalten. Wenn wir immer mehr verdichten, ist es für die Jugendpflege schwer, neue Räume zu schaffen, wo sich Jugendliche ungestört treffen können, ohne dass es zu Konflikten führt. Dabei rede ich nicht nur von Randflächen. Die jungen Leute gehören mitten in unsere Gesellschaft. Wenn wir ein offenes Ohr haben, können wir unsere eigentliche Arbeit als Kinder- und Jugendförderung machen. Wir stehen als Ansprechpartner der Kommune bereit, überwinden Hürden in einer Verwaltung und schauen, wie wir das kompatibel kriegen und jung Menschen trotzdem ihren Spaß haben.
Kinder- und Jugendparlamente haben im Kreis Groß-Gerau Seltenheitswert. In Nauheim genießt diese Institution eine hohen Bedeutung. Was ist anders in Nauheim?
Andreas Schmitt: Nauheim hat eine Sonderrolle, weil sich die Kommune bewusst für ein Kinder- und Jugendparlament entschieden hat. Dadurch entstehen Verbindlichkeit und Kontinuität. Das 1999 erstmals gewählte Nauheimer Jugendparlament inzwischen das Älteste in Südhessen. Wir von der Kinder- und Jugendförderung mussten uns dafür anders formieren und setzen auf drei Säulen: Die Arbeit mit Kindern, mit Jugendlichen und als dritte Säule der Bereich Beteiligung, Vernetzung und außerschulische Bildung. Wichtig für uns sind abgegrenzte Arbeitsbereiche und Zuständigkeiten mit trotzdem vielen Schnittmengen, aber auch personelle Ressourcen, um ein Kinder- und Jugendparlament zu führen. Und das unterscheidet uns von anderen Kommunen, die ihre Arbeit aber ebenfalls sehr gut machen. Als Beispiel sei auf Mörfelden und Trebur verwiesen.
So etwas bleibt nicht unbemerkt, oder?
Andreas Schmitt: Ja, sogar unsere hessische Landesregierung nimmt das wahr und fördert diesen Prozess. Für den Bereich Partizipation gibt es regelmäßige Arbeitskreise und Treffen. In Nauheim gibt es für all das gute Voraussetzungen. Wir haben einen offenen und modernen Bürgermeister, wir haben offene und engagierte Kommunalpolitiker, die immer die Bedürfnisse der Kinder- und Jugendlichen im Blickfeld haben. Nicht zu vergessen die Kinder- und Jugendbeauftragten. Das sind Strukturen, die es in anderen Kommunen so nicht gibt. Über Jahre entsteht für die Kommune ein positiver Effekt, wenn sich frühere Mitglieder aus dem Kinder- und Jugendparlament eines Tages in der Kommunalpolitik engagieren.
So lange ich Ihre Arbeit als Jugendpfleger kenne, haben Sie schon immer frühzeitig auf neue Entwicklungen reagiert, beispielsweise mit der Schulung digitaler Kompetenzen. Gibt es auch hier einen Wandel?
Andreas Schmitt: Ja sicher, wir versuchen immer neue Aspekte einzubringen und uns an den Bedürfnissen zu orientieren, die aktuell bestehen. Das ist abhängig von den technischen Entwicklungen, worauf wir agieren und reagieren. Anfang des Jahres hatten wir beispielsweise ein generationenübergreifendes Projekt mit dem Motto „Jung hilft Alt“, als junge Menschen den Landfrauen gezeigt haben, wie sie WhatsApp nutzen können. Umgekehrt hilft Alt auch Jung, beispielsweise mit dem Sachausschuss Berufs- und Arbeitswelt, der junge Menschen bei der Berufswahl unterstützt und berät.
Inwiefern ist die Jugendförderung in Nauheim von der Corona-Pandemie betroffen?
Andreas Schmitt: Corona hat unsere Arbeit, bei der viel über direkte Kontakte läuft, sehr durcheinander gebracht. Vieles, was geplant war, konnte nicht stattfinden. Als sich immer Sommer die Situation entspannt hatte, haben wir unseren Skateboard-Contest „Brettbewerb“ organisiert – aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wir haben keine Werbung gemacht. Wir haben das einfach für die Sportler organisiert. Der Hunger nach Veranstaltungen und Events war und ist ja nach wie vor riesig. Wir mussten nach einem Weg suchen, wie wir unsere engagierten Ehrenamtlichen weiter unterstützen können. Die wichtigste Frage war, wie kriegen wir es hin, dass über den Nachmittag nicht wie üblich 400 oder 500 Besucher auf dem Platz auftauchen. Das war rein für die Skateboarder, ohne Publikum. Alle waren sehr diszipliniert. Trotz Corona war es ein sehr schöner Brettbewerb, den wir mit unseren Skatern durchgeführt haben.