Nauheim und seine Auswanderer
Von Lothar Walbrecht.
Mitte des 19. Jahrhundert erfasste eine große Auswanderungswelle Deutschland. Es gab viele Faktoren, die die Bevölkerung zum Verlassen der Heimat veranlasste. Ein Hauptgrund war die Verarmung.
Der extreme Bevölkerungszuwachs führte in einigen Regionen Deutschlands zu einer Überbevölkerung in den dörflichen Kleinsiedlungen. Damit bestanden auch kaum Erwerbsmöglichkeiten in den Dörfern oder in den umliegenden Städten. Ein weiterer Faktor war die Zersplitterung der Anbaufläche durch die Realteilung. Durch die geringeren Erträge in der Landwirtschaft kam es zu einer schlechteren Ernährungssituation. Das kleine Stück Land, was man besaß, konnte die Großfamilie nicht mehr ernähren.
Auch in Nauheim gab es so genannte „Sozialfälle“, die kaum ihren Lebensunterhalt aufbringen konnten. Für die Grundversorgung dieser verarmten Familien bezüglich Verpflegung, Kleidung, Schulmaterial für die Kinder sowie die medizinische Betreuung und deren Verordnung an Medikamenten musste die Gemeinde aufkommen. In den jährlichen Rechnungen, die im Ortsarchiv abgelegt sind, finden sich immer wieder Namen von Angehörigen der gleichen Familien, deren Kosten die Kommune begleichen musste.
Nun machten die Gemeindeoberhäupter einen radikalen Schnitt: Sie übernahmen die Auswanderungskosten für die verarmten Familien und schickten diese in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Amerika.
Aber für eine Auswanderung gab es viele Bestimmungen zu beachten. Dies regelte das „Gesetz über die Auswanderung“ vom 30. Mai 1821 im „Großherzoglich Hessisches Regierungsblatt“. Nachdem der Auswanderungswillige gegenüber dem Bürgermeister – in Nauheim Bürgermeister Friedrich Bernhard Benjamin Mischlich – seinen Auswanderungswillen erklärt hatte, beantragte das Gemeindeoberhaupt beim Kreisrat die „Entlassung aus dem großherzoglich hessischen Untertanenverband“.
Eine Voraussetzung dafür war das Ableisten des Militärdienstes. Personen, die ihren Militärdienst noch nicht abgeleistet hatten, konnten nur aus dem Untertanenverband ausscheiden, wenn die ganze Familie auswanderte. Außerdem durften keine Forderungen von Gläubigern bestehen. Die Aufforderung an die Gläubiger musste in der Tageszeitung abgedruckt werden. Gläubiger mussten sich anschließend bei der Gemeinde melden und die Schulden anfordern. Bestanden keine Forderungen mehr und waren alle Auflagen erfüllt, wurde der betreffende Personenkreis aus dem Untertanenverband entlassen; diese wurden nun „Fremde“.
Bei den Nauheimer Auswanderern war Mainz der Ausgangsort ihrer Reise bis zum Ankunftsort Baltimore bzw. New York in den USA. Agenten von Schiffsbefrachtern wickelten die Überfahrt ab. In den meisten Fällen wurden Verträge mit dem Agenten Dr. Georg Strecker von der Firma „Strecker, Klein & Stöck“ aus Antwerpen abgeschlossen. Aber auch bei den Firmen „Brown & Harrison“ in Liverpool oder „W. Tapscott & Comp.“ in Liverpool sind Verträge in den Nauheimer Rechnungsbänden zu finden.
In den Verträgen sind alle Bedingungen zu finden, die die Überführung betreffen: die Reise von Mainz zum Einschiffungshafen in den günstigsten Klassen mit den Rheinschiffen sowie mit der Eisenbahn, der Transfer nach Nordamerika, die Verpflegung pro Kopf auf den entsprechenden Aussiedlerschiffen, die Unterkunft in den Schiffen sowie das Gewicht des Reisegepäcks pro Person. Die Verpflegung während der Anreise musste selbst organisiert werden. Auch gab es ein Handgeld für die Familien, damit sich diese im neuen Land die ersten Grundbedürfnisse erfüllen konnten.
Die erste Gruppe verließ im April 1853 Nauheim: Zehn Familien mit insgesamt 53 Personen kamen im August 1853 in Baltimore an. Im November 1853 folgten zwei weitere Familien mit neun Personen und eine einzelne Person nach New York. Eine Familie mit sechs Personen verließ im April 1854 Nauheim, auch hier ging es nach New York. Im Juni 1854 gingen sieben Familien mit 35 Personen auf die Reise nach New York. Im August 1854 folgten zwei weitere Familien mit 15 Personen in die Metropole am Hudson River, während im Dezember 1854 sieben Kinder von zwei Witwern auf die Reise nach New York geschickt wurden.
Eine weitere Familie verzog 1854 nach Amerika, deren Sohn bereits mit seiner Familie im April 1853 nach Amerika ausgewandert war. Diesen ging es in den USA wahrscheinlich bereits so gut, dass der Sohn seine Eltern und Geschwister, insgesamt sieben Personen, nach Amerika holte. Die Reisekosten haben zwar noch nicht für die ganze Familie gereicht, aber die Gemeinde Nauheim unterstützte die Zusammenführung in Amerika mit kommunalen Mitteln.Somit verließen in den Jahren 1853/54 fünfundzwanzig Familien, hier vor allem Tagelöhner und Handwerksgesellen für immer und ewig ihre alte Heimat Nauheim – insgesamt 134 Personen. Sie fanden im Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine neue Heimat.
Gläubigeraufforderung für Katharina Hock. Auch sie war für die Auswanderung nach Amerika vorgesehen, blieb aber in Deutschland und ging später als Dienstmädchen nach Zornheim. Der Sohn blieb in Nauheim und wurde von Johannes Kuhlmann II. verpflegt. (Ausschnitt aus der Beilage zur „Darmstädter Zeitung“ Nr. 298 vom 27. Oktober 1854)
Auch dafür musste die Gemeinde Nauheim herhalten: Vier Gulden und 42 Kreuzer bekam Spenglermeister Rühl aus Groß-Gerau für das Kochgeschirr, das der am 6. April 1854 nach Amerika ausgewanderten Nikolaus Lämmersdorf mitnahm.