Pandemie erschwert Opferhilfe

Von Ulf Krone.

Gerade wurde beim Weißen Ring in der für den Kreis Groß-Gerau zuständigen Außenstelle Bilanz des Corona-Jahres 2021 gezogen. Dabei ist die Zahl von etwas über 80 Opferfällen im Vergleich mit den Vorjahren vermeintlich stabil geblieben. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, denn die Pandemie hat durchaus ihre Spuren hinterlassen – auch im Bereich des gesellschaftlichen Klimas. Darüber und über die Arbeit in der Pandemie hat WIR-Redakteur Ulf Krone mit Barbara Bierach, Leiterin der Außenstelle, gesprochen.

Im Jahresrückblick der Außenstelle Kreis Groß-Gerau des Weißen Rings wird eine Bilanz der Arbeit im vergangenen Jahr gezogen. In mehr als 80 Opferfällen fanden Beratungsgespräche statt. Wie ist diese Zahl einzuordnen?

Barbara Bierach: Das ist interessant, weil diese Zahl tatsächlich einem ganz normalen Jahr entspricht. Wir haben immer zwischen 75 und 85 Fälle im Laufe eines Jahres, und das hat sich auch in der Corona-Pandemie nicht geändert. Vielleicht wären es mehr gewesen. Denn für die Arbeit des Weißen Ring ist es wichtig, dass man ein persönliches Gespräch führen kann. Dafür haben wir ja insgesamt 420 Außenstellen im ganzen Bundesgebiet.

Inwiefern hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit beeinflusst, und glauben Sie, dass die Situation Betroffene davon abgehalten haben könnte, sich an den Weißen Ring zu wenden?

Barbara Bierach: Im ersten Jahr der Pandemie haben sich unserer Erfahrung zufolge viele Menschen gescheut, den Kontakt zu suchen. Ich kann mir vorstellen, dass viele Betroffene nicht damit gerechnet haben, dass es tatsächlich noch Hilfe gibt. Alles andere war ja geschlossen. Da lag wohl die Vermutung nahe, dass auch wir die Arbeit Corona-bedingt eingestellt haben. Dem war aber nicht so. Wir sind mit Campingstühlen rausgegangen, waren in Cafés oder haben Parkbänke für unser Angebot genutzt. Allerdings ist das alles kein echter Ersatz, denn Hausbesuche waren natürlich nicht möglich.

Was sind die häufigsten Delikte, wegen denen Opfer Hilfe beim Weißen Ring suchen? Und wie wird diesen Menschen geholfen?

Barbara Bierach: Bei 18 der gut 80 Fälle im vergangenen Jahr handelte es sich um häusliche Gewalt, darüber hinaus hatten wir 16 Fälle von Köperverletzung. Alle unsere Zahlen liegen eigentlich im normalen Bereich der vorangegangenen Jahre. Bloß die Anzahl von sexuellen Übergriffen und von Stalking hat zugenommen. Dazu muss allerdings gesagt werden, dass sich viele Opfer häuslicher Gewalt zuerst an den Notruf des Frauenhauses wenden. Daher sind unsere Zahlen in diesem Bereich wahrscheinlich nicht aussagekräftig.

Um den Menschen helfen zu können, müssen diese sich erst einmal dazu entscheiden, sich bei uns zu melden. Dann können wir etwa Kontakt zu Hilfsorganisationen herstellen, Erstgespräche bei Rechtsanwälten organisieren oder die Betroffenen bei Behördengängen begleiten. Das alles geschieht selbstverständlich streng vertraulich. Wir unterliegen nämlich der Schweigepflicht.

Sie sagen, die Zahl sexueller Übergriffe, wegen der sich Opfer beim Weißen Ring melden, habe zugenommen. Glauben Sie, dass das an der lauter gewordenen öffentlichen Debatte – aktuell etwa in Form des sich stetig fortschreibenden Skandals bei der katholischen Kirche – über sexualisierte Gewalt liegt?

Barbara Bierach: Ja, das denke ich schon. Durch die gestiegene Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ist das Thema präsenter, die Menschen sind dafür mittlerweile sensibilisiert. Früher wurde das Thema weitgehend tabuisiert, doch heute liest und hört man ständig davon. Deshalb melden sich die Opfer auch immer häufiger zu Wort. Und die älteren Generationen werden dafür ebenfalls sensibler. Man spricht – wie im Falle der Missbrauchsopfer im kirchlichen Umfeld – immer öfter über die Gewalt, die einem vor vielen Jahren oder gar Jahrzehnten angetan wurde.

Das vergangene Jahr stand unter dem Motto „Gemeinsam gegen Hass und Hetze“. Dennoch hatte man das Gefühl, dass die Spaltung der Gesellschaft nie größer gewesen sei, einhergehend mit einer Verrohung im Umgang miteinander. Wie sehen Sie die aktuelle gesellschaftliche Lage?

Barbara Bierach: Auch wir haben den Eindruck, dass das gesellschaftliche Klima rauer wird. So hatten wir im vergangenen Jahr drei Fälle, in denen sich junge Menschen wegen Online-Hetze an uns gewendet haben. Das finde ich besonders schlimm, wenn gegen Einzelne gehetzt wird, gar gegen Menschen im Dienste der Gesellschaft wie Einsatzkräfte, medizinisches Personal oder Politiker.

Die Situation auf der Welt ist kompliziert, die Menschen sind verunsichert und haben Angst um ihren Lebensstandard. Doch wenn man ängstlich ist, sucht man sich gern ein Umfeld oder Gruppen, die diese Angst bestätigen. Und vielleicht wird dann die eigene Unsicherheit kaschiert, indem gegen Schwächere, die vermeintlichen Gegner, vorgegangen wird. Manchmal sind die Gründe so nichtig. Aber es reicht schon sehr wenig aus, um Gewalt zu erzeugen.

Was raten Sie den Betroffenen von Cybermobbing?

Barbara Bierach: Zuallererst raten wir zu absoluter Vorsicht mit den Daten, die man von sich im Netz preisgibt. Denn da trägt jeder selbst die Verantwortung. Man sollte sehr genau hinschauen, was man im Netz der gesamten digitalen Öffentlichkeit zugänglich macht.

Vereine und sonstige ehrenamtliche Organisationen berichten immer häufiger von einem Mangel an Menschen, die sich engagieren möchten. Wie sieht die Situation beim Weißen Ring aus?

Barbara Bierach: Was das anbetrifft, war es noch nie einfach beim Weißen Ring. Es war noch nie so, dass wir Kandidaten im Überfluss gehabt hätten, da die Arbeit in der Opferbetreuung verständlicherweise nicht immer einfach ist. Opfergespräche können sehr belastend sein. Hinzu kommt, dass die Interessenten zuerst bei mindestens drei Opferfällen hospitieren müssen, wobei auch sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Wenn danach noch Interesse besteht, absolvieren sie zwei – für sie kostenfreie – Seminare, bevor es schließlich mit der Arbeit beim Weißen Ring losgehen kann. Und auch dann sollte man sich regelmäßig weiterbilden, wofür ein riesiges Angebot an Kursen zur Verfügung steht. Aber dieser Aufwand schreckt viele natürlich ab.

Wenn man voll im Berufsleben steht, ist es nicht immer einfach, das Ehrenamt mit dem Alltag zu vereinbaren, doch beim Weißen Ring kann man sich die Arbeit frei einteilen und ist relativ flexibel. Wir suchen immer nach Menschen, die sich bei uns engagieren möchten.

Kontakt: Weißer Ring, Tel. 01520-7534655
www.gross-gerau-hessen.weisser-ring.de
gross-gerau@mail.weisser-ring.de

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