Der Kreis GG im Kraftzentrum

Von Rainer Beutel und Michael Schleidt.

Matthias Martiné, Vorstandsprecher der Volksbank Darmstadt-Südhessen (m.), steht seit rund zehn Monaten ehrenamtlich an der Spitze der Industrie und Handelskammer Darmstadt Rhein Main Neckar. Im Gespräch mit WIR Herausgeber Michael Schleidt und WIR-Redakteur Rainer Beutel schildert Martiné nicht nur die enge Verzahnung des Kreises Groß-Gerau im (über-)regionalen Wirtschaftszentrum Rhein-Main-Neckar, er macht sich auch stark für die lokal angelegte Aktion „Heimat shoppen“. Auf dem Foto links: Martin Proba, IHK Geschäftsbereich Unternehmen und Standort.

Herr Martiné, seit Mai 2019 stehen Sie an der Spitze der IHK. Welche Impulse können Sie aus Ihrem Berufsfeld einbringen und wie kann die Kammer von einem Banker profitieren?

Matthias Martiné: Ich hatte schon früh Bezug zum Unternehmertum: Meine Eltern waren Inhaber eines Schuhgeschäfts und einer Orthopädie-Schuhmacherwerkstatt in Groß-Gerau. Bereits als Jugendlicher habe ich im elterlichen Betrieb mitgearbeitet. Beim Studium der Betriebswirtschaftslehre fehlte mir dann der Praxisbezug, weshalb ich mich für einen Karriereweg über die duale Ausbildung entschied. Als gelernter Bankkaufmann bin ich seit fast 20 Jahren im Vorstand der Volksbank Darmstadt – Südhessen für das Firmenkundengeschäft verantwortlich. Dadurch kenne ich inzwischen sehr viele Unternehmerinnen und Unternehmer in unserer Region – persönlich und mit all ihren Belangen und Herausforderungen. Dieses Wissen hilft mir bei meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für die Industrie- und Handelskammer Darmstadt Rhein Main Neckar immens.

Mit Blick auf die Wirtschafts- und Innovationskraft unserer Region sprechen Sie von einem „Kraftzentrum“. Was heißt das konkret?

Matthias Martiné: Die Region Rhein-Main-Neckar ist eine der Top-Wirtschaftsstandorte in Deutschland und liegt auch im europäischen Vergleich ganz vorne. Leider ist das nicht so bekannt, sogar hier in der Region selbst nicht. Unsere Exportquote ist die höchste in Hessen. Die innovativen Produkte der hiesigen Unternehmen sind weltweit gefragt. Wir besitzen herausragende Hochschulen und Forschungseinrichtungen, im Bereich IT-Sicherheit gibt es kaum eine Gegend weltweit mit einer höheren Kompetenz. Erwähnt seien auch die bedeutenden, in Darmstadt ansässigen Europäischen Weltrauminstitutionen. Dazu kommt ein enormer Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in den zurückliegenden Jahren. Unsere Region als Kraftzentrum zu beschreiben ist also sicherlich nicht übertrieben.

Und mitten in dieser Metropol­region liegt der Kreis Groß-Gerau. Was bedeutet das?

Matthias Martiné: Der Kreis Groß-Gerau wird durch Industrie und Logistikdienstleister geprägt. Die Industrie beklagt weniger Aufträge aus dem In- und Ausland. Auch das Exportgeschäft sieht die Industrie eher kritisch. Die Verkehrs- und Logistikdienstleister beurteilen aktuell ihre Geschäftslage als gut. Ihr Ausblick auf die kommenden Monate ist aber verhalten. Es wird ein spannendes Jahr 2020 für die regionale Wirtschaft.
Für die Säule Vernetzung in unserer IHK-Strategie sind Groß-Gerau und die umliegenden Kommunen ein schönes Beispiel für die Lebenswirklichkeit der Unternehmen und Bürger. Viele orientieren sich mit ihren wirtschaftlichen, beruflichen und privaten Aktivitäten in Richtung Frankfurt, Wiesbaden, Mainz und bisweilen sogar Mannheim. Kurzum: Landkreis- oder Bundesländergrenzen spielen in den Lebenswirklichkeiten kaum mehr eine Rolle, und wenn doch, werden sie meist als Behinderung empfunden. Dem müssen wir gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen Rechnung tragen und viel stärker als bisher als Region denken und zusammenarbeiten.
Diesen Ansatz verfolgen wir mit zahlreichen Aktivitäten. Ich selbst bin als IHK-Präsident im länderübergreifenden Strategieforum der Hessischen Staatskanzlei aktiv und leite die Fachgruppe Gründung. Es gibt inzwischen vielversprechende Ansätze, aber insgesamt liegt hier weiterhin ein gutes Stück Überzeugungsarbeit vor uns. Dafür setze ich mich persönlich sehr ein.

Die IHK fördert auch das Einkaufen vor Ort. Warum sollte Ihrer Meinung nach die Aktion „Heimat shoppen“ unterstützt werden?

Matthias Martiné: In unsere IHK-Strategie spielt in der Säule „Standort voranbringen“ das Thema „Innenstädte und Ortskerne beleben“ eine tragende Rolle. Dafür bieten wir seit Jahren verschiedene Angebote für Einzelhändler, Gastronomen und Hoteliers an. In diesem Jahr beteiligen wir uns erstmals bei der Aktion „Heimat shoppen“. Bei dieser bundesweiten IHK-Kampagne können lokale Einzelhändler, Gastronomen und Dienstleister mit Unterstützung ihrer Industrie- und Handelskammer mit besonderen Aktionen und Veranstaltungen auf sich und die Bedeutung von lokalen Unternehmen aufmerksam machen. Denn sie alle leisten einen wichtigen Beitrag zu mehr Lebensqualität und Identität der Städte.

Wann wird das „Heimat shoppen“ konkret?

Matthias Martiné: Die Aktionstage sollen im September und Oktober 2020 in verschiedenen Innenstädten und Ortszentren des Kammerbezirks stattfinden. Derzeit suchen wir zahlreiche Gewerbetreibende, die in den Städten und Gemeinden die Aktion zum Leben erwecken. Ob mit einer lustigen Stadtrallye, einer Modenschau, bis hin zu Livemusik und Würstchen grillen – hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt und wir geben auch gerne Anregungen. Die Aktion soll als Auftakt dienen, die Innenstädte und Ortszentren wieder stärker in den Blickpunkt zu nehmen. Wir wollen die Wirtschaftsförderer motivieren, sich Gedanken über die Innenstädte der Zukunft zu machen.

Darüber hinaus: Was sind denn die gegenwärtigen Schwerpunktthemen der IHK?

Matthias Martiné: Die strukturellen Herausforderungen durch die Energiewende, die Digitalisierung und den Fachkräftemangel bleiben große Herausforderungen für unsere Unternehmen. Hier ist die Politik gefordert, nicht zuletzt mit Blick auf die exzellenten Steuereinnahmen, endlich die Rahmenbedingungen in Deutschland zu verbessern. Die wichtigsten Punkte sind: mehr öffentliche Investitionen, bessere analoge und digitale Infrastruktur, Planungsbeschleunigung bei Investitionsvorhaben, weniger Bürokratie, und – im Hinblick auf unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit – Senkung der Unternehmenssteuern. In der Region drängen einige Themen, die wir auch in unserer IHK-Strategie verankert haben. Allen voran der Fachkräftemangel in fast allen Branchen. Auch Erhalt und Weiterentwicklung der Mobilität spielen in unserer bereits hochverdichteten Zuzugsregion eine entscheidende Rolle. Die geplante ICE-Neubaustrecke zwischen Mannheim und Frankfurt ist dafür sehr wichtig. Wenn diese Strecke endlich und mit der richtigen Trassenführung realisiert wäre, könnte der ÖPNV im Kreis Groß-Gerau sehr viel besser getaktet und damit dessen Attraktivität deutlich erhöht werden. Hierfür setzen wir uns als IHK mit Nachdruck ein.

Die IHK übt also in der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit von Kommunen und Kreisen eine aktive Rolle aus?

Matthias Martiné: Richtig, die IHK Darmstadt versteht sich als Partner und Berater der Kommunen und Kreise. Wir alle haben ein gemeinsames Ziel, die Wirtschaftsregion insgesamt zu stärken. Wir wissen von unseren Unternehmen, wo der Schuh vor Ort in den Kommunen drückt, auch aufgrund einer jüngst durchgeführten Standortumfrage. Mit diesem Input gehen wir in den Dialog mit Politik und Verwaltung. Das betrifft beispielsweise die Entwicklung von Gewerbeflächen, aber auch die Gewerbesteuerthematik. Zudem planen wir in diesem Jahr eine Neuauflage des IHK-Mittelzentrenrankings. Dabei werden wir die Kommunen eng einbinden. Wir wollen die Bedingungen für unsere Mitgliedsunternehmen verbessern, das gelingt letztlich nur im engen Zusammenspiel mit den Verantwortlichen vor Ort.

Sie haben es angesprochen: In der Industrie herrscht keine Aufbruchsstimmung, gleichzeitig aber erstarken die Dienstleister. Welche Erklärungen gibt es?

Matthias Martiné: Die genannte Entwicklung in der Industrie ist bundesweit zu erkennen. Die für Deutschland prägende Automobilbranche schwächelt aus verschiedensten Gründen und das schlägt durch auf viele anhängende Branchen.
Den Beschäftigten geht es aber (noch) gut, das zeigen die guten Zahlen in der Dienstleistungsbranche. Wir hatten über Jahre einen massiven Anstieg an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, zudem sind die Löhne gestiegen. Das sind alles Faktoren die sich bei den Dienstleistungen und auch im Handel positiv bemerkbar machen. Viele Dienstleistungsunternehmen hängen aber auch direkt an der Industrie. Hier werden die nächsten Monate zeigen wie sich die Geschäfte entwickeln. Unser aktueller IHK-Konjunkturbericht spricht deshalb von einer stabilen Seitwärtsbewegung. Allerdings könnte der Corona-Virus die gesamte konjunkturelle Entwicklung bremsen. Damit müssen wir wohl inzwischen rechnen.

Noch eine abschließende Frage: Viele Menschen sehnen sich nach weniger Bürokratie – und plötzlich gibt es die neuen steuerlichen Anforderungen an Registrierkassen. Wie passt das zusammen?

Matthias Martiné: Das passt sicherlich nicht zusammen. Bei einer aktuellen Befragung unserer kleinen und mittleren Unternehmen bis 50 Mitarbeiter wurde noch einmal deutlich, dass die Bürokratie eine der großen Belastungen darstellt. Die IHK-Organisation insgesamt, vor allem der Deutsche Industrie- und Handelskammertag in Berlin, ist bei diesem Thema seit Jahren aktiv und versucht die Politik zu sensibilisieren. Leider sind hier besonders dicke Bretter zu bohren. Bei der Registrierkassenpflicht bin ich der Meinung, dass systematisch geplanter Steuerbetrug sich nicht durch den Ausdruck eines Kassenbons verhindern lässt, dafür belastet dieses Vorgehen alle ehrlichen Unternehmen, die ihre Umsätze rechtskonform erfassen. Die hessischen IHKs fordern daher, dass die Ausdruckpflicht ohne Kundenwunsch zurückgenommen wird. Vor allem sollten Kleinbetragsbelege von der Regelung ausgenommen werden. Es gab wegen der Neuregelung massive Beschwerden bei uns. Wir haben mehrere Veranstaltungen dazu angeboten, die immer mit 50 bis 100 Unternehmerinnen und Unternehmern gut besucht waren. Unsere Bemühungen zeigen Erfolg: Momentan sieht es so aus, als ob eine Lockerung der Regelung kommen könnte.

Zur Person: Matthias Martiné, Präsident der IHK Darmstadt Rhein Main Neckar seit Mai 2019, zuvor seit 2014 Vizepräsident und Vorsitzender des Etatausschusses bei der IHK. Gelernter Bankkaufmann, seit über 30 Jahren für die Volksbank Darmstadt–Südhessen tätig, seit rund 19 Jahren im Vorstand und dort verantwortlich für das Firmenkundengeschäft.

Azubi-Speed-Dating: Der aktuelle Fachkräftemonitor zeigt für Südhessen eine Lücke von fast 30.000 Fachkräften. Dem stehen exzellente Karrierechancen auf Basis einer dualen Berufsausbildung gegenüber. Beim Azubi-Speed-Dating haben junge Menschen die Möglichkeit, in zehn Minuten ihren künftigen Arbeitgeber kennenzulernen. Gemeinsam mit den Beruflichen Schulen Groß-Gerau veranstaltet die IHK am 20. Mai von 10 bis 14 Uhr das dritte regionale Azubi-Speed-Dating im Kreis Groß-Gerau für alle, die einen Ausbildungsplatz suchen oder anbieten. In zehnminütigen Gesprächen entsteht ein erster persönlicher Kontakt, um sich gegenseitig voneinander zu überzeugen. Ab 20. April können Schülerinnen und Schüler feste Gesprächstermine über die IHK-Webseite buchen:

www.ausbildung.darmstadt.ihk.de

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